© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Fliegen

Hendrik wollte schon immer fliegen. Frei wie die Vögel, die Himmelsgeschöpfe, die tagsüber scheinbar so nah an der Sonne vorbeiflogen und sich in ihren goldenen Strahlen wärmten. Er wollte mit ihnen da oben sein und mit den anderen Menschen, die in ihren Fliegerkreis schon aufgenommen wurden. Hendrik war mit vielen von ihnen aufgewachsen, mit manchen war er sogar gut befreundet. Bis sie eines Tages abheben konnten. Es war keine Überraschung, nein. Jeder von Ihnen wusste, dass bald dieser einmalige Tag kommt. Der Tag, an dem die anfangs ganz kleinen und langsam wachsenden Flügelchen, die man schon seit einiger Zeit an ihren Körpern entdecken konnte, endlich für den ersten Probeflug bereit waren.
Und irgendwann war es soweit. Eines Morgens wachte man auf und wusste, dass es soweit ist. Einfach so. Man ging barfuss zum Fenster, streckte die noch sehr feinen Flügel aus, stieß sich leicht von dem Fußboden ab und in einem Nu schwebte man schon über den Straßen der kleinen Heimatstadt. Selten kam der Flieger danach zurück.
Normalerweise konnte man den Glücklichen noch einige Zeit über dem Ort kreisen sehen. Anscheinend bewunderte er zum letzten Mal die kleine Stadt, wo er geboren wurde, wo er aufwuchs und wo seine gesamte Kindheit und ein Teil der Jugend für immer bleiben werden. Er sah sie zum letzten Mal und aus einer so ungewöhnlichen Perspektive, dass es ihm den Atem verschlug. Und obwohl dem Flieger eigentlich alle Straßen und alle Ecken dieser Stadt schon bestens bekannt waren, kreiste er immer weiter umher und bewunderte sie wie vom Neuen. Denn er wusste, dass es keinen Weg zurück gab. Erst gegen den frühen Abend verschwand der Flieger vom schon etwas rötlichen Himmel. Er flog in die große Stadt über den Bergen. In die Stadt der Träume und Hoffnungen. In die Stadt, die nur den Wenigsten je zugänglich wird. Und in die jeder irgendwann hin will. Was ist das für eine Stadt? Niemand kann das genau beantworten. Bekannt ist nur, dass sie das eigentliche Endziel jedes vernünftigen Menschen ist. Aber nur die verschwindend geringe Minderheit kann am Schluß dieses Ziel erreichen. Alle anderen müssen hier bleiben. Sie wurden hier geboren und sie werden hier auch sterben.

Manchen ist es auch egal. Das heißt jetzt nicht, dass sie nicht davon träumen, einmal doch über die Berge zu fliegen. Nein, davon träumt strenggenommen jeder Bewohner dieser kleinen Ortschaft. Aber die meisten von ihnen haben sich mittlerweile damit abgefunden, dass die große Stadt für sie immer nur ein Traum bleibt. Die meisten haben irgendwann realisiert, dass sie einfach nicht dafür geeignet waren, über die Berge zu steigen und davon zu fliegen. Es tat zwar weh, den Tatsachen ins Gesicht zu blicken und die eigene Unfähigkeit zu gestehen. Aber niemand war alleine mit dieser Trauer. Es gab ja genug von solchen Leuten, sie bildeten schließlich die Mehrheit der Ortbevölkerung. Die Flieger - sie waren die Ausnahmen. Und so geschah es, dass der anfängliche Schmerz sich langsam auflöste und aus der Seele wich. Doch nicht komplett. Denn immer wieder gab es welche, die hoch über der Ortschaft kreisten und mit der Ankunft der Dämmerung den Himmel Richtung Berge verließen. Immer wieder waren die Bewohner des kleinen Städtchens dazu gezwungen, ihren einstigen Mitbürgern bei dem Davonfliegen zuzusehen. Unwillig. Nein, in Wirklichkeit wollte keiner nach oben schauen, um den Menschenschatten mit ausgebreiteten Flügeln zu sehen, der langsam, scheinbar mit einer gewissen Art von Neugier und Verwunderung, sie beobachtete und über dem Ort kreiste. Der die anderen an ihre Nichtigkeit erinnerte. Aber nichtsdestotrotz schaute man hin. Eine unerklärliche und mächtige Kraft ließ jedes Mal die Gesichter nach oben schauen, wenn ein neuer Flieger über der Stadt schwebte. Die Leute schauten hin, und für diesen kurzen Augenblick kam das fast vergessene, schmerzliche Gefühl in ihrem Inneren auf. Das Gefühl, das sie im Laufe der Zeit verdrängt haben, das jedoch immer noch in jedem von ihnen lebte und bei solchen Gelegenheiten wieder aufblühte. Dieses verdammte Gefühl ließ sich nicht unterkriegen. Mit jedem Glücklichen, der im Himmel flog, wurde es immer wieder vom Neuen geweckt.

Man mochte die Flieger nicht. Sie waren etwas Besonderes unter den Menschen. Die Gerüchte gingen um, sie hätten keine Seele. Man erzählte, sie wären dumm, hochmütig, gefühllos, verräterisch, geldgierig und kalt. Das behaupteten Menschen, die diese Leute gekannt haben oder die behaupteten, diese Leute gekannt zu haben. Auf jeden Fall wurden solche Erzählungen kaum angezweifelt. Den einfachen Menschen war es sehr angenehm, doch noch in vielen und vor allem in den menschlichen Sachen besser als die Flieger zu sein. So kam es, dass solche Geschichten immer ein offenes Ohr und stille (oder auch laute) Zustimmung fanden. Und doch, heimlich, träumte jeder davon, einmal wie die Auserwählten zu werden. Niemand gab es öffentlich zu, denn für so etwas würde man sofort von den anderen verspottet und ausgelacht. Aber tief in seinem Inneren, dort, wo kein fremdes Auge Zutritt hatte, wünschte sich jeder das feine Flügelpaar. Und jeder wusste auch, dass all die anderen, die in der Öffentlichkeit so gerne über die Flieger spotten, nichts sehnlicher als ihre Paar Flügel wünschen. So war es schon immer und so ist es bis heute in dieser Stadt.

Und so geschah es also auch mit Hendrik. Anfangs glaubte er all diesen Geschichten über die Flieger und war eigentlich kaum anders als die Menschen um ihn herum. Doch etwas war anders. Wie es das Schicksal so wollte, haben in den letzten Jahren fast alle seine Freunde Flügel bekommen. Seitdem sahen sie sich nicht mehr wieder. Die Freunde schrieen Hendrik noch etwas zu, während sie ganz oben in der Ferne schwebten, Hendrik antwortete, winkte und versuchte eine Art Freude für seine Freunde auf dem Gesicht darzustellen. Wenigstens den Schein bewahren. Aus der weiten Höhe sah es allerdings noch glaubhaft aus. Doch in seinem Inneren begann sich langsam aber sicher etwas zu ändern. Warum waren das immer die Anderen, die die Flügel verliehen bekamen? Warum nicht er? War er etwa irgendwie schlechter als die Anderen? Früher dachte Hendrik immer, dass die Flieger sehr komische und eigenartige, ja schlechte Menschen wären, wie man halt überall von ihnen erzählt hat. Doch er war jetzt über längere Zeit mit vielen von ihnen gut befreundet, er kannte sie sehr gut persönlich und diese These hielt einfach nicht stand. Die Flieger waren ja gar nicht schlimm, nicht komisch und nicht eigenartig. Wenigstens die, die er gekannt hat. Sie waren ganz normale Menschen wie auch all die anderen um sie herum. Natürlich ist jeder Mensch etwas Besonderes und Einzigartiges, doch so gravierend, wie sie von Vielen dargestellt wurden, waren die Unterschiede gar nicht. Und doch haben sie ihre Flügel bekommen. Das heißt, sie bekamen etwas, ohne dafür etwas Anderes eingebüßt zu haben. Das heißt sie waren so wie die Anderen plus ein ziemlich fetter Zusatz. Das heißt sie waren einfach besser.

Eines Tages wachte Hendrik mit diesem erschreckenden Gedanken auf. Seine Freunde, die Flieger - sie waren besser als er. Besser als all seine anderen Freunde, besser als die meisten Menschen in der Stadt, besser als… Aber das war nicht mehr so wichtig. Hauptsache war schon, dass sie besser als er, Hendrik, waren. Der Gedanke schien fast unerträglich zu sein. Doch eine andere Deutung gab es nicht. Langsam musste sich Hendrik eingestehen, dass dieser Gedanke eigentlich schon lange in seinem Kopf gereift hat. Und auf den Augenblick wartete, seine Welt zu erschüttern. Heute war es endlich soweit. Der Augenblick kam und sein ganzes Inneres krümmte sich in Qualen, verzweifelnd suchend nach einer anderen Erklärung. Doch eine andere gab es nicht.

Einige Jahre später konnte man wieder das Wunder im Himmel beobachten. Hoch über den Wolken schwebte ein menschlicher Schatten über der Stadt. Langsam und gemächlich machte er seine Kreise über dem Heimatort, um es später am Abend für immer zu verlassen und nie wieder zu sehen. Wie üblich standen viele Passanten auf den Straßen und guckten dem Flieger sehnsüchtig zu. Unter ihnen konnte man sehr leicht den Hendrik erblicken. Leicht, weil er auf einem kleinen selbstgebastelten Podium stand und eindringlich auf die Menschen einredete, die dem Flieger zuschauten. Hören wir doch mal zu, was er seinen Mitbürgern zu sagen hatte:
"Und ich sage euch, ihr müsst diese Flügel schon frühzeitig bei euren Kameraden erkennen und sie abschneiden. Denn sie sind das Übel unserer Gesellschaft. Diese Flügel können nur bei einem für das ewig Böse anfälligen Menschen ansetzen. Sie zeugen von seiner wilden Natur, von dem gestörten Geist und von animalischen Instinkten, die er die ganze Zeit von uns verborgen hielt. Ein Mensch ist ein Mensch, ein Mensch ist kein Tier und kein Vogel. Die Vögel können fliegen, dafür haben sie aber keinen Verstand und keine Moral, die nur uns - Menschen zuteil wurden. Und wenn bei Jemandem die Flügel wachsen, dann ist das ein Zeichen des Atavismus, des Rückfalls. Wir - als seine Mitmenschen sind dazu verpflichtet, den Unglücklichen vor diesem Unheil zu retten. Deshalb seht nicht gleichgültig zu, wenn eurem Nächsten ein solcher Unfall passiert. Unternehmt etwas. Ihr dürft nicht zulassen, dass er dem Bösen endgültig verfällt. Es bleibt noch immer die Hoffnung, auch wenn die Flügel schon gewachsen sind. Lasst sie nicht wegfliegen, zerrt sie an den Beinen herunter, macht die Fenster zu, vergittert sie am besten und haltet die Türe verschlossen. Diesen Menschen ist noch zu helfen. Bindet sie fest und schneidet ihnen die Flügel am lebenden Leibe ab. Ich weiß, es wird ihnen ungeheuer wehtun. Ich weiß, es wird auch euch wehtun. Doch ihr seid vom Gott verpflichtet, es so zu machen, um euren Nächsten vom schlimmeren Übel als der rein körperliche Schmerz zu retten und zu befreien. Danach müsst ihr sie noch sehr lange im Auge behalten. Denn wer schon ein Mal dem Bösen verfallen ist, dem ist nicht mehr zu trauen. Diese Menschen sind von ihrer Natur aus schlecht. Sie sind anders als wir - hörige Kinder unseres Heimatlandes. Des Heimatlandes, das diese Ungeheuer so kaltblütig verraten und verkaufen wollten. Des Heimatlandes, das sie in Wohlstand und Liebe hat aufwachsen lassen. Sie sind wie Tiere, die kurzzeitig in die menschliche Haut schlüpften. Bestimmt hat man schon früher, vor dem raschen Ausbruch dieser Krankheit, ihre Symptome gemerkt. Die unnatürliche Gier, der Hochmut, die plötzliche Verblödung und Gefühllosigkeit dieser Menschen können nicht von uns verborgen bleiben. Der Verrat ist ihr Element. Traut Niemandem von Ihnen! Sie gehören nicht dazu, sie gehören nicht zu uns, sie wollten ja schließlich auch von uns wegfliegen. Sie wollten in die von unserem Herrn für immer und ewig verdammte Stadt. Sie sind schlecht und böse. Hütet euch vor diesen schrecklichen Leuten. Und hütet eure Kinder davor, denn die Kinder - sie sind besonders gefährdet! Wollt ihr etwa, dass eure Söhne Flieger werden? Nein, das will niemand hier, denn wir sind alle anständigen Menschen. So seid auf der Hut, passt immer auf, mit wem ihr redet und wer bei euch ins Haus tritt. Denn diese Monster sind unter uns! Sie warten nur auf den richtigen Augenblick, um ihre schwarze Seele zu offenbaren."

Und die Zahl seiner Zuhörer wurde immer größer.

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