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Erwins letzter Tag

"Leberwurst! ", dachte Erwin Kasulke, als er die beiden Hälften seines Frühstücksbrotes auseinander klappte. Ausgerechnet Leberwurst. Eigentlich müsste Doris, seine Frau, wissen, dass er keine Leberwurst mag, je mochte und wohl auch nie mögen wird. Immerhin sind sie fast fünfundzwanzig Jahre verheiratet. Da sollte man die Eigenheiten des Partners kennen.
Fast genauso lange arbeitete Erwin bei der Bahn. Damals, 1981, als er überraschend arbeitslos wurde, fand er bei der Bundesbahn eine zweite Chance. Einige Jahre war er Schaffner auf der Strecke Düsseldorf-Köln-Frankfurt. Eine schöne Strecke. Allerdings war das noch die alte Streckenführung. Auf der neuen Intercity-Trasse ist er nie gefahren. Leider. Zu Beginn der Neunziger wechselte er in den Bahnhofsvorstand, wie Doris das so gerne zu sagen pflegte. Er wurde stellvertretender Bahnhofsvorsteher des Düsseldorfer Hauptbahnhofs. Erster Vorsteher wurde er nie, doch war ihm das auch nicht wichtig. Erwin konnte sich kaum an Tage erinnern, an denen er nicht gern zur Arbeit gegangen wäre und so war es auch heute, an seinem letzten Arbeitstag vor seinem Ruhestand.
Erwin nahm das ungeliebte Frühstücksbrot, packte es wieder in seine Zellophanhülle und legte es erst einmal zur Seite. Irgendwie hatte sich Erwin diesen Tag ganz gelassen ausgemalt. Er würde in seinem Büro sitzen, irgendwann kamen die Kollegen um zu gratulieren und er würde den üblichen Präsentkorb einheimsen. Pünktlich 17:00 Uhr würde er Feierabend machen und Doris würde ihn heute ausnahmsweise abholen. Ja, so malte sich Erwin diesen Tag aus und er wäre damit zufrieden gewesen.
Es sollte anders kommen...

Knebel, Körner und Kießling - die Tatsache, dass die Namen der drei Spezialisten des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes mit demselben Buchstaben anfingen, sorgte bereits öfter für Erheiterung. Auch bei den Teilnehmern des Fortbildungslehrganges in Frankfurt. Heute stand die praktische Prüfung an, der letzte Schritt zur Zertifizierung als Bomben-Entschärfer in Stress-Situationen. Die drei NRW-Beamten waren vorsichtig optimistisch - trotz aller Aufregung. Der Prüfungsleiter versuchte bereits mit dem ersten Satz seiner einleitenden Ansprache die Spannung zu nehmen. Es gelang ihm nur halbwegs, bemühte er doch den alten Bomben-Entschärfer-Gag "Schneide nie den roten Draht durch".

Rolf-Rüdiger Schmidt war wie sein Name: Unauffällig. Vielleicht wurde der ehemalige Chemie-Laborant bei Beförderungen deshalb gerne übersehen. Nur einmal übersahen sie ihn nicht... bei seiner Entlassung. Seitdem bastelte er an einer zweiten Karriere als Bombenlieferant. Mit den Jahren wurde er eine feste Größe in der Schattenwelt aus Terror und Verbrechen. Und er war stolz darauf. In der schönen, neuen Welt wollte jede Vereinigung, selbst jede Splittergruppe, die etwas auf sich hielt, Bomben besitzen. Doch aus Mangel an eigener Qualifikation wurde für dieses Problem sein Wissen eingekauft, teuer eingekauft.
Rolf-Rüdiger lieferte gut und er lieferte pünktlich. Und er berücksichtigte gerne Spezialwünsche seiner Kunden. Heute würde er eine Bombe im Zug übergeben, die - auf besonderen Wunsch - bereits scharf sein sollte. Es war leicht zu erahnen, dass sein Auftraggeber die Bombe auf dem Weg nach oder in Düsseldorf zünden wollte. Die Übergabe des Koffers, der die Bombe enthielt, und des Fernzünders sollte im Intercity auf dem Weg von Frankfurt nach Köln erfolgen. Rolf-Rüdiger würde in Köln aussteigen und tunlichst einen Anschlusszug wählen, der nicht über Düsseldorf fuhr.

Erwins Kollegen hatten sich für ihn etwas mehr als einen Präsentkorb einfallen lassen. Fast alle hatten heute frei genommen und der Düsseldorfer Hauptbahnhof musste einmalig mit einer Notbesetzung "am Leben" erhalten werden. Erwin durfte noch einmal, allerdings nicht wirklich dienstlich, seine alte Strecke Düsseldorf-Köln-Frankfurt und zurück fahren und einige vorbereitete Überraschungen sollten ihn erwarten. Als die Kollegen ihn aus dem Bahnhofsvorsteher-Büro schleppten, da war er so überrascht, dass er vor lauter Aufregung nur eines mitnahm: Sein Leberwurstbrot. Zwar wurde ihm bereits einige Minuten später bewusst, dass er das am allerweinigsten gebrauchen konnte, doch wenn Erwin überrascht wurde, dann brauchte er immer irgend etwas, an dem er sich festhalten konnte. Und sei es nur ein Leberwurstbrot.
Na ja, seine Kollegen hatten sich ziemlich ins Zeug gelegt. Einen ganzen Wagen hatten sie im Intercity gemietet - Erwin wusste gar nicht, dass das überhaupt ging - und hatten dort einiges vorbereitet: Ein Chor sang alte Eisenbahnerweisen, es gab reichlich Herrengedecke - an denen auch Erwins Kolleginnen teilhaben durften - und sie steckten Erwin sogar in eine alte Uniform von 1910. Da gab es zwar die Bundesbahn noch nicht, aber das war Erwin nach dem vierten Herrengedeck ziemlich egal. Die lustige Truppe erreichte Frankfurt bereits mit gehöriger Schlagseite und kehrte umgehend in einer der Bahnhofskneipen ein. Stilecht sollte es schon sein. Bis zur Rückfahrt war noch etwas Zeit und die größte Überraschung für Erwin sollte hier erst noch zusteigen.

Körner und Kießling hatten bestanden. Sie waren jetzt beide zertifizierte Bombenentschärfer in Stresssituationen - zweiten Grades. Knebel war knapp gescheitert und durfte sich mit der Aussicht trösten, die Prüfung in zwei Monaten nochmals probieren zu dürfen. Nun saßen sie alle im Bordrestaurant des Intercitys nach Düsseldorf und versuchten mit ihren unterschiedlichen Situationen in gleicher Form umzugehen - sie bestellten drei Bier. Körner und Kießling hielten sich mit ihren Feierlichkeiten zurück und spendeten stattdessen Knebel Trost. Und wenn im Wein Wahrheit liegt, so lag im Bier Vergebung - zumindest vergab Knebel nicht die Chance rechtzeitig drei weitere Biere zu ordern. Nach der dritten Runde mussten Körner und Kießling ihn dennoch zurückhalten, seine Dienstmarke aus dem Fenster des fahrenden Zuges zu werfen. Beide dankten Gott, dass Köln nicht mehr weit war und bestellten zu Sicherheit Runde Nummer Vier - diesmal allerdings alkoholfrei.

Rolf-Rüdiger und sein Kunde standen sich an den entgegengesetzten Enden des Bordrestaurants gegenüber. Rolf-Rüdiger mit dem Koffer und dem Funk-Fernzünder, der entfernt an eine TV-Fernbedienung erinnerte, und sein Kunde mit einer schwarzen Tasche mit der vereinbarten Geldsumme. Sie gingen aufeinander zu, um sich kurz an einem Tisch zu treffen. Der Kunde würde die Fernzündung über der Tischplatte entgegen nehmen, während sie unter dem Tisch Tasche und Koffer übergaben. Doch alle Theorie ist grau. Vor dem Tisch schoss sein Kunde fast an Rolf-Rüdiger vorbei, sie tauschten irgendwie Tasche und Koffer und sein Kunde raunte ihm zu: "Bullen". Erst am jeweils anderen Ende des Wagens kamen beide zum Stehen und bemerkten, dass Rolf-Rüdiger noch immer die Fernzündung in seiner Hand hielt.

Körner war noch lange nicht betrunken genug, um das Wort "Bullen" nicht wahrzunehmen. Sein Spürsinn erkannte sofort, dass dort, genau vor seinen Augen, eine Übergabe stattfand. Er stieß Kießling und Knebel an und der vorher fast verlorene Diensteifer war zurückgekehrt. Knebel nahm sich den Mann mit dem Koffer vor, Kießling und Körner eilten dem Mann mit der Tasche hinterher. Der Intercity war kurz vor Köln. Und Kießling ahnte Böses.

Minuten zuvor enthüllten Erwins Kolleginnen und Kollegen dessen größte Überraschung. Erwin trug wieder seine eigene Uniform und saß in der Mitte des Wagens, der sich verständlicherweise am Ende des Zuges befand, und wartete, was da kommen mochte. Die Abteiltür ging auf und es erschien eine rassige Blondine in Schaffner-Uniform. Erwin war vielleicht zu betrunken, doch konnte er sich an keine Vorschrift erinnern, die das Ablegen der Dienstkleidung im Abteil vorsah. Offensichtlich gab es aber auch keine Vorschrift, die eben dies verbot und so lag die Uniform der jungen Dame ziemlich schnell achtlos in einer Ecke des Abteils. Unter der Uniform trug die Blondine einen golden glitzernden Bikini, aber die Atmosphäre in Erwins Sonderwagen war wohl auch zu heiß dafür. In dem Moment als die Blondine ihre Brüste entblößte, erinnerte sich Erwin an seine Doris. Er wandte seinen Blick ab und wollte nur noch aus dem Abteil. Im selben Augenblick fuhr der Zug im Kölner Hauptbahnhof ein.

Knebel fluchte, dass er seine Dienstwaffe nicht dabei hatte. Die Person, die er durch die Abteile hetzte, schleuderte den Koffer bedenklich. Vielleicht war es das Thema seiner gerade verpassten Zertifizierung, die ihn ahnen ließ, dass in dem Koffer Sprengstoff sein könnte. Zumindest musste er diesen Kerl kriegen. Der Zug war mittlerweile im Kölner Hauptbahnhof eingefahren und zum Stillstand gekommen. Die Türen öffneten sich und der Flüchtige sprang auf den Bahnsteig. Als - vielleicht durch den Intercity-Zug - ein Knall ertönte, handelte Knebel instinktiv. Er rief sofort: "Polizei, stehen bleiben!", und zu seiner eigenen Überraschung gehorchte der Flüchtige. Knebel ließ den Mann den Koffer abstellen und befahl ihm sich hinzulegen und die Hände hinter dem Kopf zu verschränken. Nachdem er so die Situation unter Kontrolle gebracht hatte, öffnete er den Koffer. Darin befand sich seine schlimmste Befürchtung: Plastiksprengstoff, eine Digital-Uhr, die gnadenlos gegen Null lief und lauter rote Drähte.

Kaum einhundert Meter davon entfernt sprang Rolf-Rüdiger auf den Bahnsteig und rannte in der anderen Richtung davon. Zwar hatte er hinter sich zwei Polizisten im Schlepp, doch war er gut trainiert und sicher, sie abhängen zu können. Fast hatte er schon das Ende des Zuges erreicht. Einmal nur wollte er sich noch umsehen, um den Abstand zu seinen Verfolgern abzumessen...

Der Zug stand und Erwin Kasulke betrat nach Atem ringend den Bahnsteig. Das war ihm in all den Jahren noch nicht passiert. Und fast schon ärgerte er sich, nicht doch im Abteil geblieben zu sein und das Schauspiel der jungen Dame zu Ende verfolgt zu haben. Doch dann fiel ihm wieder Doris ein und mit ihr etwas, das er den ganzen Tag vergessen hatte: Das Leberwurstbrot. Tatsächlich fand er es ohne große Mühen in seiner rechten Uniformtasche. Er befreite das Frühstücksbrot von der Zellophanummantelung, bedachte es für zwei Sekunden mit einem eigenartig sentimentalen Blick und suchte dann einen Mülleimer, um das Brot mit dem verhassten Belag zu entsorgen. In dem Moment rempelte ihn ein vorbeilaufender Mann an und schlug ihm dabei das blanke Leberwurstbrot aus der Hand. Es flog im flachen Bogen in die Laufrichtung des Mannes, der sich jedoch vielmehr auf Erwin Kasulke konzentrierte als auf seine nächsten Schritte. Einer davon traf das mittlerweile friedlich daliegende Leberwurstbrot und beförderte ihn ausrutschend auf den Rücken. In dieser Rückwärtsbewegung ließ Rolf-Rüdiger - denn um keinen anderen handelte es sich - seine Fernsteuerung los und schickte diese auf einer Parabelflugbahn zurück in Richtung Erwin. Reflexartig fing dieser sie und betrachtete sie mit Unverständnis und unscharfem Blick. Erwin stand immer noch erstaunt, als Körner an ihm vorbeilief und sich des Gestrauchelten annahm. Kießling blieb vor Erwin stehen und sagte nur: "Gut gemacht, Schaffner! " Dann nahm er ihm das Ding ab, von dem Erwin immer noch annahm, damit aufs ZDF umschalten zu können.
Derweil hatte Knebel seine eigene kleine Prüfung nachgeholt und den richtigen roten Draht durchtrennt. Die Schlagzeilen, die am folgenden Tag den Kölner Express zierten, konnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner vorhersehen. Diese würden die drei Kriminalisten in den Himmel heben, aber Erwin würde der Held des Tages sein, hatte er doch an seinen letzten Arbeitstag einen Anschlag auf den Kölner Hauptbahnhof heroisch verhindert. Noch dazu als Düsseldorfer!
Als Erwin in dem Moment einsam und allein auf dem Bahnsteig stand, da ging ihm jedoch, eingedenk des von seiner Frau mit Liebe geschmierten Leberwurstbrotes, ein ganz anderes Problem durch den Kopf. Wenn Doris ihn fragen würde, wie er denn den Kriminellen überwältigt hatte - was sollte er ihr darauf antworten?

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