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Der Engel
Sie wußte, sie konnte es.....
Hoch oben stand sie auf dem Feuerwachturm und der Wind spielte mit ihrem
Haar. Es war kalt geworden in den letzten Tagen. Nicht mehr lange und
der erste Reif taucht die Welt in sein glitzerndes Kleid. Sie fröstelte
ein wenig und bemerkte wie ihre feinen Körperhäärchen sich
aufrichteten und eine Gänsehaut sich bildete. Die Arme verschrenkend
und vorsichtig reibend, legte sie ihren Kopf in den Nacken und genoß
den Blick in den sternenklaren Himmel.
Hatten irgendwann einmal die Sterne mehr gefunkelt, als gerade eben jetzt?
Sie wußte es nicht. Sie schloß die Augen und tat einen tiefen
Atemzug.
Es war eine so wunderschöne klare Nacht und sie fühlte sich
so leicht. Sie fühlte sich seit langem wieder frei. Vielleicht lag
es ein wenig am Wein, den sie getrunken hatte und der alles mit einer
geheimnisvollen Leichtigkeit erfüllte. Der Wald lag beinahe still
zu ihren Füßen. Lediglich das leise Rauschen des Windes, wie
er die Baumkronen sanft wiegt, war zu hören. Kein Laut eines Tieres,
eines Menschen oder gar einer Maschine störte diese andächtige
Ruhe.
Wieder legte sie den Kopf in den Nacken und blickte gen Himmel. Wieder
erfaßte diese bezaubernde Leichtigkeit ihr Herz und beflügelte
zuckersüß ihre Seele. Dies war der Augenblick. Der Augenblick
vollkommenen Glücks, denn plötzlich wußte sie genau wer
sie war und sie wußte, daß sie es konnte. Sie konnte fliegen!
Sie breitete ihre Arme aus. Fast wie in Zeitlupe fiel ihr Körper
vornüber und stürzte in die Tiefe. Während dieser Sekunden
des Fallens spürte sie, wie sich Körper und Seele uneins wurden
und sich für immer voneinander trennten. Wie aus einem Kokon befreit,
entfaltete sie ihre Flügel, um auf Engelsschwingen dem Mond und all
den so wunderbar funkelnden Gestirnen am Firmament, entgegen zu schweben.
Das war das wirkliche Gefühl von Freiheit und unendlichem Glück.
Am nächsten Morgen gellte ein hysterischer Schrei durch den Wald.
Ein Jogger hatte, bei seinem täglichen Waldlauf, einen blutüberströmten
Körper gefunden. Nahe dem Feuerwachturm lag, unter einem feinen Schleier
aus jungem Morgentau, die Leiche einer schönen Frau. Und ihre Lippen
umspielte ein geheimnisvolles Lächeln.
In der Zeitung war später zu lesen, daß eine furchtbare Tragödie
sich ereignet hatte. Eine junge Frau war auf dem taufeuchten Boden des
Feuerwachturms ausgeglitten, in die Tiefe gestürzt und dabei zu Tode
gekommen. In diesen Fall wurden die Behörden eingeschaltet und die
Sicherheitsbestimmungen dieser Feuerwachtürme mußten überprüft
werden.
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