© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Der Unfall

Am 27.09.2001 brachen die Polizeibeamten die Wohnungstür von Herrn Wolfgang Schmitz in der Römerstrasse 17 auf. Sie traten in den Flur und verteilten sich, um die Wohnung zu durchsuchen.
Eine Nachbarin hat die Polizei alarmiert. Die Frau von Herrn Schmitz sei seit einer Woche verreist und seitdem habe man nichts mehr von Wolfgang gehört. Die Briefe lägen im Briefkasten und die für ihn gebrachte Postsendung könne sie nicht zustellen, weil er die Tür nicht aufmache. Sie habe sich Sorgen gemacht und deshalb die Polizei angerufen.
Schon beim Eintreten rochen die Beamten einen etwas komischen, süßlichen Geruch. Das heißt, einen für den durchschnittlichen Menschen komischen, die Beamten wurden in ihrem Dienst öfters mit solchen Gerüchen konfrontiert. Nach kurzer Zeit fanden sie auch die Ursache dafür. Ein Mann hing im Badezimmer an einem Lampenhaken, eine Wäscheleine um seinen Hals.
"Schon wieder ein Toter", - dachte der Polizist, der die Leiche gefunden hat. "Schon wieder diesen ganzen Papierkram ausfüllen. Warum können denn die Armleuchter sich nicht an einem anderen Tag erhängen, nicht wenn ich Dienst hab'. Und ich dachte, ich komme heute früher nach Hause, nur ein kurzer Abstecher, und dann bin ich bei meinem Schatzi. Verdammt noch mal!"
"Hei, Hans", - hörte er. "Komm doch her, guck dir das mal an. Der Kerl muss ja wirklich verrückt gewesen sein". Er kam ins Wohnzimmer und sah seinen Kollegen Stephan am Schreibtisch des Toten. Er hielt einige Blätter Papier in den Händen. " Sieh dir das mal an", meinte er "hätte ein Schriftsteller werden sollen, anstatt von der Decke zu baumeln."
Hans nahm unwillig die Blätter und fing an zu lesen.

Die erste Frage, die ich mir jetzt stelle, ist wofür ich das ganze eigentlich zur Papier bringen möchte? Ist das wegen den mich plagenden Schuldgefühlen, um mein Gewissen zu beruhigen? Oder ist das einfach der einzige Weg, jemandem über das Geschehene zu berichten, ohne danach von dem Gedanken verfolgt zu werden, etwas davon könnte in meinen Bekanntenkreis durchsickern. Vielleicht gibt es auch andere Gründe dafür. Es ist auf jeden Fall so, dass ich diesen ständigen Druck endlich loswerden möchte. Hoffentlich gelingt es auf diesem Wege.
Zuerst muss ich wahrscheinlich die Vorgeschichte erzählen. Es fing an am..., nein lieber nicht. Wahrscheinlich ist es dem Leser sowieso egal, wann genau das geschah, genauso wie, wie ich heiße. Und ich möchte auch unerkannt bleiben. Also fahren wir fort. Ein Freund von mir hat mich angerufen und zu einer Party am Wochenende eingeladen. Dass diese Party sich als ein Saufgelage anlässlich seiner Beförderung erweisen wird, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.
So ging ich dahin ein nettes Beisammensein mit alten Freunden erwartend. Als das wahre Wesen dieser Party für mich jedoch allmählich klar wurde, wollte ich zuerst unter einem unschuldigen Vorwand verschwinden. Ich mag eigentlich kein Alkohol, vertrage es auch nicht besonders gut. Außerdem war ich mit meinem Auto da, und hatte überhaupt keine Lust mit einem Taxi nach Hause zu fahren.
Als ich jedoch den Versuch machte, dem Gastgeber mein Vorhaben mitzuteilen, hat er nur gelacht und gesagt: "An so einem Tag musst auch du dich mal ordentlich besaufen, sei doch kein Waschlappen, du willst mich doch nicht alleine mit diesen Typen lassen." Ich war ein blöder Trottel, aber andererseits woher sollte ich denn damals wissen, was schon nach etwa 5 Stunden passieren wird? Das wusste ich nicht. Und die Uhr tickte unabwendbar.
Ich habe mich überreden lassen und blieb. Und trank mit allen, versuchte genauso heiter und fröhlich wie die anderen zu sein. Das einzige Problem war, dass ich Alkohol nicht vertrug. Aber wer denkt denn daran in so einer Situation!
Ja ich gebe es zu, ich hab' mich bis zum Gehtnichtmehr vollaufen lassen! Aber das passiert doch jedem ein Mal im Leben, jeder hatte doch ein solches Erlebnis, und es ist nichts geschehen!! Warum nur ich, oh warum nur. Okay, okay ich habe mich ein bisschen abgelenkt, kommen wir wieder zu meiner Geschichte. Also, ich habe mich betrunken, total besoffen besser gesagt. Und nicht nur das. Nach der Party, als die mehr oder weniger nüchterne Gäste vorschlugen, mich mit ihren Autos nach Hause zu bringen, lehnte ich es beleidigt ab. "Ich bin in jedem Zustand fähig, meine Karre zu fahren", - habe ich gesagt. Niemand konnte mich von diesem Vorsatz abbringen.
Schließlich haben sie aufgegeben und mich mir selbst überlassen. Ich stieg in das Auto und fuhr sicher und gleichmäßig ( so schien es mir wenigstens) ab. So bin ich auf die Landstrasse gekommen und mit der 100 km/h Geschwindigkeit nach Hause gefahren. Wie nach einem teuflischen Plan regnete es sehr, die Fahrbahn war nass und man konnte kaum etwas sehen. Ich fuhr ungefähr eine halbe Stunde, als es geschah. Eine verwaschene Siluette in dem Scheinwerferlicht, das erschrockene Gesicht, die zum Schutz in die Luft gehobene Hände, das Quietschen der Reifen, der Aufprall. Und dann diese schreckliche und unheimliche Stille. Eine Stille, wenn man weiß, dass etwas Schreckliches passiert ist, man ist sich aber dessen noch nicht ganz im klaren, man hegt noch irgendwo tiefst in seinem Wesen die lächerliche Hoffnung, dass alles nur ein böser Alptraum war, dass man gleich aufwacht, und alles so wie immer sein wird. Diese Hoffnung ist aber immer vergebens. Auch dieses Mal.
Ich sprang aus dem Auto und lief zu der auf dem Asphalt liegenden Gestalt. Es war ein junges Mädchen, wahrscheinlich um die zwanzig Jahre alt. Sie muss recht hübsch gewesen sein, früher, noch vor zwei Minuten. Und jetzt lag sie da - tot, ihr Gesicht eine schreckliche Grimasse, blutverschmiert und unnatürlich verstellt. Und ich stand daneben, der Schuldige an ihrem Tod mittlerweile schon halbnüchtern. Langsam zu sich kommend. Was sollte ich jetzt tun? Dieser Gedanke drang in meinen Kopf scheinbar aus der weit entlegenen Ferne. Was soll ich jetzt nur tun? Das erste, was mir einfiel, war die Polizei zu rufen. Aber wie denn? Niemand anderer war auf der Straße und ein Handy besaß ich nicht. Wahrscheinlich müsste ich dann ein paar Kilometer bis zum nächsten Telefon zu Fuß laufen und sie so neben meinem Auto alleine liegen lassen. Aber etwas hat mich angehalten. Zuerst wusste ich nicht so recht, was es war, dann klärte sich mein Kopf jedoch allmählich. Es war die Angst. Die Angst vor den Folgen des Polizeirufs. Das Bild stand jetzt deutlich vor meinen Augen: Fahren im betrunkenen Zustand, ein Autounfall mit tödlichen Folgen. Meine Zukunft war jetzt mehr oder weniger klar. Ein paar Jahre Gefängnis, Führerscheinentzug, Jobverlust usw. Nicht gerade rosig. Die Frage war nur, ob das alles wirklich so unabwendbar war? Dem Mädchen war ja sowieso nicht mehr zu helfen, Tote kann man nicht wieder zum Leben erwecken, und ich hatte eine Familie, um die sich jemand sorgen musste. Wofür sollte ich überhaupt die Polizei rufen? Damit sie feststellen, dass sie tot ist? Dafür brauchen sie mich sicherlich nicht. Das einzige, was die mit mir anfangen könnten, wäre mich wegen Todschlages oder so Ähnliches zu verhaften und dann vors Gericht zu stellen. Und wem würde dadurch geholfen? Sicherlich nicht dem armen Mädchen.
Solche Gedanken kreisten in meinem verirrten Kopf, während ich das Ergebnis meines Saufens vor mir tot liegen sah. Zu meiner Rechtfertigung muss ich sagen, das sich auch ein gewisser Wunsch nach Gerechtigkeit in mir regte. Ein Teil meines Verstandes sehnte sich nach der Strafe, nach dem Knast. Dieses Teil wollte wahrscheinlich meine von Schuldgefühlen geplagte Seele dadurch reinigen, die Sünde wenigstens teilweise abwaschen und vielleicht den inneren Frieden wiederherstellen. Ich weiß nicht, ob dies zu etwas Gutem geführt hätte, denn ich habe auf die andere Stimme gehört. Und jetzt werde ich es auch nie erfahren, weil ich einfach zu feige bin, mich den Behörden zu stellen.
Wie dem auch sei, ich bin weggefahren. Einfach weggefahren, ohne sogar einen anonymen Anruf bei der Polizei zu machen. Wahrscheinlich hatte ich zu viel Schiss, man könne meine Spur auf irgendeine Weise zurückverfolgen. Einfach weiter nach Hause gefahren, meiner Frau "Hallo" gesagt, mich geduscht und unter die warme Bettdecke gekrochen, alles wie immer.
Auch in den nächsten Tagen habe ich es geschafft, mich ganz normal zu verhalten. Niemand merkte etwas, sogar meine eigene Frau, die mich vielleicht sogar besser kennt, als ich selbst, war ahnungslos. Jedoch der Schein trügt. Während ich nach außen hin ein ganz normaler Mensch blieb, krümmte sich mein Inneres in unerträglichen Schmerzen. Ich konnte weder wie früher schlafen noch essen noch sonst etwas tun. Ich wurde von dem Gedanken verfolgt, was wäre, wenn ich in dieser Nacht nicht so viel getrunken hätte. Das unschuldige Wesen, das meinetwegen sein Leben verloren hat, stand immer wieder vor mir. Ich stellte sie mir in der Schule, zu Hause mit ihrer Familie, mit ihren Freunden und Bekannten vor und schließlich kam immer der Augenblick, in dem sie das Gesicht von einem unbeschreiblichen Schrecken verzerrt ihr junges Leben auf der Stoßstange meines Volkswagens ließ. Ich habe den ganzen Wagen sorgfältig gewaschen, es neu gestrichen und trotzdem musste ich jedes Mal an sie denken, wenn ich die Garage betrat. Nur meinem Schauspielkunst konnte ich verdanken, dass keine Menschenseele etwas davon mitbekommen hat. Mein Verstand löste sich jedoch darin allmählich auf.
Irgendwann konnte ich es nicht mehr länger ertragen. Ich musste einfach etwas unternehmen. Und dann kam der Gedanke mit dem Schreiben. Vielleicht wird das mich wenigstens für eine kurze Zeit erlösen, irgendwie ablenken. Zu verlieren habe ich auf jeden Fall nichts.
So, jetzt habe ich alles, was mit mir geschehen ist, zur Papier gebracht. Ob das mir geholfen hat? Na ja, erleichtert hat es mein Leben schon. Aber für wie lange? Das wage ich nicht zu vermuten. Vielleicht für ein paar Tage, vielleicht für ein Monat, vielleicht auch für das ganze restliche Leben. Ich weiß es einfach nicht. Aber was ich mit Sicherheit weiß, ist dass mich das Geschehene nie vollständig loslassen wird . Und dass ich jeden Morgen beim Aufwachen die im stummen Schreien aufgerissene Augen des von mir getöteten Mädchens sehen werde.

Hans hob die Augen und sah den lächelnden Stephan an. "Weißt du, Stephan", - meinte er "hier gibt es nichts zu lachen." Er drehte sich um und kehrte zurück ins Badezimmer. Der flüchtige Fahrer hing immer noch da und starrte ihn an. Und komisch, trotz der verstellten Fratze eines Erhängten, glaubte Hans eine Erleichterung in seinem Gesicht zu erkennen. Eine gewisse Ruhe. Aber vielleicht war das alles auch nur ein Spiel seiner Fantasie.
An diesem Tag weigerte sich Hans, mit Stephan zu sprechen, trotz mehrmaligen Versuchens seinerseits.

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