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Der Plan

Er hatte lange gebraucht, um den idealen Platz zu finden. Schließlich war er auf dieses kleine Hotel in der Rua Direita de Santo Antonio gestoßen. Sein Zimmer war geräumig, und von der Terrasse genoß er den Blick auf den Hafen und die Bucht.
Der mit wild wucherndem Grün und Abfällen bedeckte Abhang endete ungefähr achtzig Meter tiefer an der Straße. Hinter ihr, durch eine Mauer von ihr getrennt, befanden sich die Kasernen. Flache weiße Gebäude mit roten Dächern. Zu ihnen gehörte ein Sportplatz, ein Schwimmbecken und der Appellplatz.
Am ersten Abend setzte er sich in einen der Korbstühle, die auf der Terrasse standen, und sah zu, wie die Sonne im Meer versank. In den Tropen ist die Dämmerung kurz. Es dauerte nicht lange und die auf Reede liegenden Frachter schalteten ihre Positionslampen ein; starke Scheinwerfer tauchten den Containerterminal in taghelles Licht, das jeden Schatten ausleuchtete.
Auf dem Kasernengelände war alles ruhig. Nur manchmal vernahm er undeutliche Lautsprecherdurchsagen, die wahrscheinlich der täglichen Dienstroutine galten.
Auf dem Wasser bewegten sich einige Lichtpunkte langsam in verschiedene Richtungen. Der Himmel über ihm war sternklar. Von der Seeseite blies ihm ein warmer Wind ins Gesicht und trocknete seinen Schweiß.
Am nächsten Morgen stand er früh auf. Zum Frühstück war es noch zu früh, und er trank eiskaltes Mineralwasser aus einer Plastikflasche in der Minibar. Mit einem Fernrohr, Zettel und Kugelschreiber bewaffnet setzte er sich auf die Terrasse.
Um 6.45 Uhr blies der Hornist zum Wecken.
Um 7.45 Uhr war eine Kompanie im Sportanzug, der aus weißem Hemd und blauer Turnhose bestand, auf dem Appellplatz abmarschbereit angetreten. Laut singend trabten sie unter der Führung eines Unteroffiziers auf dem asphaltierten Weg über das Kasernengelände.
Zum gleichen Zeitpunkt hatte ein kleiner Trupp vor dem Flaggenmast Aufstellung genommen.
Von der Seite näherte sich ein Offizier und nahm die Meldung des Truppführers entgegen.
Zuerst wurde der Bataillonswimpel niedergeholt.
Um Punkt 8.00 Uhr ertönte durch den Lautsprecher das Kommando: "Heiß Flagge!", und langsam wurde die Landesfahne am Flaggenmast hochgezogen.
Danach machte der Trupp, der die Flaggenparade durchgeführt hatte, im Gleichschritt kehrt und verschwand auf der anderen Seite des Platzes n einem Unterkunftsgebäude.
Er schwenkte das Fernrohr auf die Kompanie im Sportanzug, die inzwischen das weiße Hemd ausgezogen hatte und mit nacktem Oberkörper aus einer Unterführung zum Vorschein kam, die das Kasernengelände unter einer mehrspurigen Ausfallstraße verband.
Ein Teil der Soldaten machte auf einem besonderen Platz irgendwelche Übungen, der andere trabte zum Schwimmbecken, und der Rest begab sich zum Sportplatz. Eine Stunde später war das gesamte Gelände verwaist.
Alle gingen ihrer jeweiligen Dienstroutine nach.

Er betrachtete das Foto, das auf dem Bambustisch in seinem Zimmer lag. Es zeigte einen Mann Mitte Dreißig in Uniform. Wenn er im Bad in den Spiegel sah, konnte er die Ähnlichkeit zwischen dem Mann auf dem Foto und sich nicht übersehen.
Heute morgen hatte er diesen Mann nicht gesehen.

Am nächsten Morgen verfolgte er das morgendliche Zeremoniell auf dem Kasernengelände erneut. Es verlief ohne Abweichung. Ironisch sagte er sich, daß es ein Vorteil war, daß der soldatische Alltag so berechenbar war. Er lief mit der Pünktlichkeit und Gleichmäßigkeit eines Uhrwerks ab.
Aber der Mann, auf den er gewartet hatte, war nicht erschienen. Er trug seinen Namen und hatte den Dienstgrad eines Oberleutnants. Er war sein Stiefbruder. Das Aufgebot war schon bestellt. In zwei Wochen würde er Isabel heiraten. Die schöne Isabel, die eigentlich ihm das Jawort gegeben hatte. Aber das hatte sie im Bett seines Stiefbruders vergessen. Die Logik hätte verlangt, daß er sich an ihr rächte. Aber in solchen Dingen zählte die Logik nicht. In seinen Augen war Juan daran schuld, daß sie ihn verlassen hatte. Trotzdem hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß sie zu ihm zurückkehren würde. Schließlich konnte seinem Stiefbruder etwas zustoßen. Und wenn sie nicht mehr die Wahl hatte, mußte sie zu ihm zurückkehren.
Erst am dritten Morgen wurde sein Warten belohnt. Durch das Fernglas erkannte er den Offizier, der die Meldung bei der Flaggenparade entgegennahm. Er trug die Uniform eines Oberleutnants. Es war sein Stiefbruder.
Zufrieden lehnte er sich zurück. Das bedeutete, daß Juan jeden Mittwoch die morgendliche Flaggenparade anführte. Er folgte seinem Stiefbruder mit dem Fernglas, bis er seitlich aus seinem Blickfeld verschwand.

Die Woche bis zum nächsten Mittwoch war lang. Ihn plagten Zweifel. Der Dienstplan konnte geändert werden. Dann war alles umsonst. Daran wagte er nicht zu denken.
Jeden Nachmittag saß er auf der Terrasse und verfolgte den Sonnenuntergang. Es war gut, daß das Kasernengelände im Westen lag. So mußte er am Morgen nicht gegen die Sonne blicken. Wenn die Dunkelheit kam, nahm er aus der Minibar eine oder zwei Dosen eiskaltes Bier und schlürfte es in kleinen Schlucken. Aber er zwang sich, nie mehr als zwei Dosen zu trinken.

Am Dienstagabend hatte er die Hotelrechnung bezahlt. Zum letzten Mal genoß er den Blick auf die Bucht. Er lächelte bei dem Gedanken an ihren Namen: De Todos os Santos. Die Bucht aller Heiligen. Er fragte sich, ob er ein gutes Omen für das Gelingen seines Planes war.
Am nächsten Morgen stand er früher auf als sonst.
Die britische Spezialeinheit SAS schwor auf die PSG-1. Er kontrollierte zum wiederholten Male das Magazin und die Einstellung des Zielfernrohrs.
Dann visierte er den imaginären Punkt an, wo sein Stiefbruder erscheinen mußte.
Die Routine der Flaggenparade nahm ihren Lauf wie an jedem Tag. Er sah auf die Uhr. Es war genau 7.55 Uhr. Am linken Bildrand erschien der Offizier, dem der Truppführer Meldung machen würde. Er strengte die Augen an. Nein, es hatte keine Änderung gegeben. Der Mann im Sucher war Juan. Er atmete tief ein und aus. Der Augenblick war gekommen. Er hatte ein Fenster von ein bis zwei Sekunden. Der rechte Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Sein Herz schien stehenzubleiben. Die Sicht durch das Zielfernrohr war plötzlich blockiert. Fassungslos hob er die Augen, und sein Blick fiel auf einen kleinen grünen Vogel, der sich direkt auf dem Lauf der PSG-1 vor dem Zielfernrohr niedergelassen hatte und an dem bräunierten Metall seinen Schnabel wetzte.

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