© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
vervielfältigen oder anderswo veröffentlichen. Alle Rechte
dieses Werkes liegen bei dem Autor. Diesen Disclaimer bitte
nicht entfernen


Das Urteil

An diesem Tag war das Wetter sehr schön. Die Sonne schien warm und angenehm vom wolkenlosen Himmel herab und die Vögel zwitscherten fröhlich in den Bäumen, den herannähernden Sommer grüßend. Die Luft war so rein und so durchsichtig, wie man sie hier sonst kaum erleben konnte. Ein kühler Wind trug die Hitze von den üppig bepflanzten Straßen hinweg, sodass auch die Stadtbewohner mit voller Brust atmen und die Zeit genießen konnten. Alle bis auf Einen.

Tief gebeugt ging er seinen Weg. Um seine Hände und Füße wurden schwere Ketten gelegt, die seinen Gang noch mühsamer machten. Rechts, links und hinten von ihm gingen die Wachen. Einer von ihnen hatte eine Lederpeitsche in der Hand und passte auf. Jedes Mal, wenn der völlig erschöpfte und ausgehungerte Gefangene seinen Schritt verlangsamte, schnellte die Peitsche unbarmherzig herunter und hinterließ noch eine blutige Narbe an dem schmutzigen, blutüberströmten Körper. Dann hob der Mann kurzzeitig den Kopf und versuchte aus letzter Kraft, wenigstens etwas schneller die Beine zu bewegen. Damit waren die Wachen dann wohl zufrieden.

Die Straßen, die der Mann auf seinem Weg passieren sollte, waren von beiden Seiten mit Menschen übersät. Die Menge jubelte jedes Mal wenn der Gefangene hinfiel und mit Peitschenschlägen wieder zum Aufstehen gezwungen wurde. Sie spuckten ihn an, und manche trauten sich sogar, an den Wachen vorbeizukommen, um den Gefesselten ins Gesicht oder in den Bauch zu schlagen. Die Wachen hinderten ihrerseits niemanden daran, sie lachten nur, wenn er unter den Schlägen zusammenbrach und zu Boden stürzte. Das gab ja einen neuen Anlass für den Soldaten mit Peitsche, unerbittlich seiner Aufgabe nachzugehen. Die Menge brüllte dann vor Hass und Freude, in Erwartung einer noch besseren Unterhaltung.

Der Gefangene konnte sie aber kaum noch hören vor lautem Schmerz und Erschöpfung. Er sah die Menschen um sich herum wie durch einen flimmernden Schleier, der sich vor seinen Augen gebildet hätte, und nur einige Gedankenfetzen trennten ihn vor der Bewusstlosigkeit. "Judas", schrie jemand zu ihm. "Judas, Judas", stimmte der Mob ein. "Judas", dachte der Mann. Die Erinnerungen überkamen ihn. Damals war Judas der Gute. Damals war er auf ihrer Seite. Und jetzt schimpfen sie ihn mit diesem Namen. Wie grotesk. Er hätte sich niemals gedacht, dass es so weit kommen kann. Aber man siehe und staune.

Andere Zeit, anderes Volk - das Ende bleibt aber dasselbe. In einer Stunde wird wohl schon alles vorbei sein. Dabei wollte er nichts anderes wie damals. Er wollte die Gesellschaft in ihren Grundsätzen verändern. Er wollte den Menschen einen Weg ins Licht, in die Liebe und Gedeihen zeigen. Aber niemand hat es gebraucht. Zu schwierig und zu anstrengend war dieser Weg. Zu selbstkritisch. Und nun wird er seinem Schicksal entgegentreten. Heute wie damals.

Sie kamen auf einen runden, von Menschen überfüllten Platz. In seiner Mitte stand das schon längst fertig gestellte Schafott. Der Mann in Ketten hob langsam seine Augen vom Boden und schaute zum Henker am Galgen hinauf. Der Henker grinste ihn an. Die Gewehre der Wachleute glitzerten in der prallen Sonne. Nun war es soweit. Vielleicht ist es auch besser so, dachte der Verurteilte müde. Er wird nicht mehr leiden müssen. Nur ein kurzer Augenblick und dann ist es endgültig vorbei. Die Wachen zerrten den Mann an den Stufen herauf und warfen ihn dem Henker zu Füssen. Dann zogen sie den Mann wieder vor die Schlinge hoch. Die Menge auf dem Platz tobte. Die Wellen ihres lauten Jubelns überkamen das Schafott und lösten eine Art triumphaler Euphorie bei allen Anwesenden aus. Dem Verurteilten war es aber mittlerweile gleichgültig. Er betrachtete währenddessen die kleine Schlinge, die am Ende des dünnen Galgenseils herunterhing. So schmal und auf den ersten Blick unschädlich. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie imstande gewesen wäre, so schnell und mit solcher Leichtigkeit einem erwachsenen Manne sein Leben zu nehmen.

Der Henker zog ihm die Schlinge über den Kopf. Wer weiß, vielleicht wird gar nicht viel Zeit vergehen, und sie beginnen damit, den Galgen anzubeten. Und mit der Schlinge zu segnen. Wer weiß, wer weiß. Der Boden unter ihm ging auf. Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.

zurück