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Brief aus der Zukunft I

Mein lieber Schatz,

ich weiß nicht, wann du diese Zeilen hier lesen wirst. Man verspricht uns zwar, daß die Briefe umgehend ausgeliefert werden und in drei Tagen per Luftpost vor Ort sind, aber die anderen Mütter, mit denen ich gesprochen habe, mußten teilweise mehrere Wochen auf Antwort warten. Ich hoffe, du wirst bald dazu kommen, mir zu schreiben.

Es fällt mir schwer, jetzt einen Brief zu schreiben, aber ich möchte so gerne, daß du so bald als möglich eine Nachricht von Zuhause in den Händen hältst. Heute morgen erst war dein Abflug und ich habe minutenlang der Transportmaschine hinterhergesehen bis sie nicht mehr auszumachen war. Erst als sich nach einiger Zeit selbst die Kondensstreifen aufgelöst hatten fuhr ich nach hause. Jetzt sitze ich in deinem Zimmer an deinem Schreibtisch und schreibe meinen ersten Brief an dich und kann nur beten, daß dich die Zeilen hier gesund und unversehrt erreichen und die arabischen Terroristen dein Lager verschonen werden. Ich kann die beinahe täglich gezeigten schrecklichen Bilder der toten Soldaten einfach nicht aus dem Kopf bekommen und hoffe so sehr, daß dein Stützpunkt verschont bleiben wird.

Ich schaue mir gerade das Photo von unserem ersten Mallorcaurlaub an, das immer noch auf deinem Regal steht. Du siehst so strahlend und glücklich darauf aus. Ich hätte damals nie gedacht, daß du jemals gegen deinen Willen in den Krieg ziehen müßtest. Ich sehe wieder Deinen Blick vor mir, als Du einberufen wurdest und von Zuhause fort mußtest. Wie deine Hände zitterten, als du mir den schmucklosen Brief mit Deiner Einberufung zeigtest. In diesem Augenblick hätte ich dich am liebsten einfach nur in die Arme genommen und nie wieder losgelassen. Ich fühlte mich ohnmächtig, als wäre mein Herz nun auch zu Eis geworden, wie fast alles. Ich konnte die Frage in deinen Augen sehen. Jene Frage, die nicht nur du dir stellst. Warum. Warum das alles. Warum nur. Warum dieser Krieg. Warum…

Ich habe immer versucht, dir all meine Geborgenheit und Liebe zu schenken, habe dich in den Schlaf gewogen, bin nachts völlig erschöpft aus dem Bett gefallen und zu dir gegangen, wenn du geschrien hast oder du nicht schlafen konntest. Du warst und bist mein größtes Geschenk auf Erden. Und doch… in jenem Augenblick, als du gehen mußtest… wollte ich so vieles dir sagen, so vieles erklären. Aber mein Schuldgefühl lähmte mich.
Es gab so vieles, daß ich dir erklären wollte. Wie soll man aber das Unerklärliche erklären? Wie das Ungreifbare faßbar machen? Was waren wir doch dumm, anmaßend und arrogant. Ich erinnere mich noch, wie im Sommer 2009 meine Eltern scherzten, bald könnten wir in Hamburg unter Palmen an der Alster flanieren, wenn es so weiterginge. Es war mal wieder ein Rekordsommer. Herrlich warm, kaum Regen. Die Landwirte schimpften zwar wie gewohnt, aber immer neue Getreidesorten, die man gezüchtet hatte, sorgten selbst jetzt noch für sehr gute Ernten.

In den Zeitungen kursierten lustige Photomontagen, zeigten, wie hier auf dem Rathausmarkt Palmen aussehen würden und die sonst so zurückhaltenden Hamburger plötzlich zum mediterranen Lebensstil bekehrt werden. Es war die Zeit, als viele Leute fröhlich meinten, daß der Klimawandel doch eigentlich gar nicht so schlecht sei. Zugegeben, in anderen Ländern gab es furchtbare Dürren, in Afrika, Asien, in Teilen der USA und selbst hier in Deutschland. Aber unsere hochgezüchtete Landwirtschaft konnte vieles kompensieren. Uns ging es wunderbar. Und ich erinnere mich, daß ich die endlosen Sommer genoß und das kühle Eis damals sehr gut schmeckte. Ich liebte Schokoeis.
Eis…

Ich war zwar noch ein Kind auch damals, aber ich sah regelmäßig zusammen mit meinen Eltern die Nachrichten. "Schwarzmaler", "Wirrköpfe", meinten meine Eltern immer, wenn irgendjemand Klimakatastrophen an die Wand malte. Man hatte vor längerer Zeit das Sterben der Wälder vorhergesagt. Und die Wälder standen immer noch. Man hatte furchtbare Flutkatastrophen vorhergesagt. Und die Küsten waren immer noch da. Schwarzmaler eben. Und wer weiß, vielleicht war die ganze Klimasache ohnehin ein naturbedingtes Phänomen. Schließlich war es wissenschaftlich erwiesen, daß es schon vor dem Erscheinen des Menschen Klimaschwankungen gegeben hatte.

Die meisten freuten sich sogar über Palmen hier in Hamburg. Was zwar noch einige Jahre oder Jahrzehnte dauern könnte, aber schon jetzt glichen die Winter eher milden Regenzeiten und die Sommer warmen Paradiesen. Zwar gab es auch jene, die über die Hitze stöhnten, doch das freute nur die Klimaanlagenhersteller. Der Absatz von Klimaanlagen stieg sprunghaft an. Ich weiß noch, wie meine Eltern sich ihre erste Klimaanlage kauften. Von nun an konnte es draußen ruhig 35 Grad sein. Drinnen war es schön kühl.

Und so lebten wir weiter. Hinein in die Zukunft, die keines der Schreckensszenarien hatte wirklich werden lassen. Ich beendete schließlich meine Ausbildung und lernte Deinen Vater Martin kennen. Und als ich 28 war kamst du. Einer der schönste Tage meines Lebens. Es war der 23. August 2027, um 0:46. Drei Tage zu früh. Dein Vater verließ uns leider zwei Jahre später. Irgendwie war ich ihm nach deiner Geburt wohl nicht mehr attraktiv genug erschienen, vielleicht war die andere einfach nur hübscher gewesen. Es spielt heute keine Rolle mehr. Du hast meinem Leben einen Sinn gegeben. Auch wenn es zu Beginn oft hart war und das Geld fast nicht reichte. Immerhin unterstützte der Staat damals wieder Familien mit Kindern. Kinder waren wieder wertvoll geworden und jeder riß sich um sie.

Ich weiß nicht mehr, welcher Tag es genau war. Ich weiß nur noch, daß es Anfang 2031 war, als ich nebenbei beim Bügeln die Nachrichten laufen ließ. "Golfstrom zusammengebrochen?" hieß die lapidare Meldung. Britische Wissenschaftler hatten auf einem Forschungsschiff auf dem Atlantik die besorgniserregende Entdeckung gemacht, daß kein warmes Wasser vom Golf von Mexiko mehr Richtung Norden fließen würde. Natürlich kannte fast jeder den Golfstrom, mehr oder weniger. Gedanken machte sich niemand wirklich darum. Ich zuerst auch nicht.

Der Sommer 2031 war merkwürdig kühl. Die Modeindustrie stöhnte, daß der Verkauf von Sommerkleidung sich schleppend dahinzog und die Lager bis zum Bersten gefüllt waren. Anstatt der mittlerweile gewohnten mediterranen Hitze war es plötzlich nur noch knapp unter 20 Grad warm. Dazu ein recht frischer Wind. Ich glaube, es war erst dann, erst im Sommer 2031, als die Leute langsam begriffen, was passiert war. Ich inbegriffen. Der Golfstrom war versiegt. Es gab heiße Themenrunden im TV, Schwarzmaler, Daueroptimisten und Zyniker beharkten sich gegenseitig. Die einen leugneten schlicht jeden größeren Effekt auf das Klima, die anderen malten Untergangsvisionen, während wiederum andere nur mit den Schultern zuckten.

Wie hatten wir es nur zulassen können. Plötzlich meinten Experten, man hätte doch schon seit fast 40 Jahren davon gewußt. Wovon nur gewußt, fragte ich mich. Ich habe anfangs nicht genau verstanden, warum es plötzlich wieder kälter werden konnte, wo doch alle immer den Treibhauseffekt gepredigt hatten. Bis ich selber mal im Internet recherchierte und alles nachlas, was ich vorher nie hatte wissen wollen, weil es mir unwichtig erschienen war. Der Golfstrom war der eigentliche Klimamotor Europas. Mehr als das, zusammen mit den globalen Meeresströmungen war der Golfstrom nur Teil eines gigantischen Systems. Eines Systems, das wir offenbar kaputt gemacht hatten. Sorglos, achtlos, mit einem Lächeln auf den Lippen. Weil wir Palmen an der Elbe schön fanden? Oder weil niemand sich wirklich jemals Gedanken darum machte? Ich weiß es nicht. Ich habe damals auch immer fleißig die Klimaanlage hochgedreht, mir Eiswürfel gemacht und manchmal zig Haushaltsgeräte gleichzeitig laufen lassen.

Wir hatten uns mit dem Treibhauseffekt ironischerweise genau das Gegenteil dessen beschert, was viele, auch ich, eigentlich gar nicht mal so nachteilig fanden. Statt Wärme sollte nun Kälte folgen. Eine Kälte, die niemand vorher gekannt hatte. Wie das sein konnte? Durch die viele Wärme und die vielen Niederschläge im Atlantik, dem schmelzenden Grönlandeis und dem vermehrten Süßwasserzufluß der Flüsse in die Meere war der Salzgehalt des Golfstroms gesunken. Offenbar war dieses Salz wichtig. Ohne das Salz war das Wasser des Golfstroms, wenn es im Nordmeer anlangte, nicht mehr dicht und schwer genug, um absinken zu können. Absinkendes kaltes Wasser zog bisher das warme Wasser aus dem Süden hinter sich her, floß zurück in die warmen Regionen, stieg wieder auf und floß so erwärmt dann wieder ins Nordmeer. Ein schöner Kreislauf. Bis es irgendwann zu warm wurde und zu viel Schmelzwasser und Regen das Salzwasser verdünnte. Und der Golfstrom plötzlich zu fließen aufhörte.

Was niemand hier jemals wirklich realisiert hatte: Nordeuropa liegt etwa auf der selben geographischen Breite wie Kanada. Aber wir sollten es bald merken.
Der Winter 2032 war einer der härtesten seit Jahrzehnten. Ungeahnte Schneemassen fielen, machten teilweise für Tage das öffentliche Leben fast unmöglich, da man kaum hinterherkam, die Schneemassen zu bewältigen. Zwar gab es noch städtische Räumdienste, doch hatten die in den letzten Jahrzehnten so gut wie nie mit größeren Schneemassen zu kämpfen gehabt.

Im Sommer 2033 war es erneut recht kühl. Hier in Hamburg noch erträglich, immerhin waren es mehr als 15 Grad, manchmal auch über 20. Nur daß es recht lange dauerte, bis der Schnee endlich verschwunden war. Schlimmer sah es auf den britischen Inseln und weiter oben im Norden in Skandinavien aus. Dort war es mit einem Mal sehr viel kühler geworden und der Schnee hielt sich dort noch viel länger als bei uns.
Der Sommer 2033 war gespickt mit Katastrophen. Es gab große Dürren im Süden der USA und was noch viel schlimmer war: der große Regen in Asien blieb aus. Der Monsunregen, sonst jährlich wiederkehrend, hatte diesmal nicht seinen nassen Segen gebracht. Ich glaube, spätestens 2033 begannen die Menschen zu bemerken, daß sich die Dinge wirklich ändern würden und geändert hatten. Unabänderlich.
2033 kamst Du in die Schule. Widerstrebend, ich weiß, du wolltest lieber daheim bleiben und hattest anfangs Angst vor den anderen Kindern. Immerhin dieses Problem löste sich schnell.

Im Frühjahr 2034, als draußen noch Schnee lag und ich trotz der schweren Stürme, die oft draußen tobten, mit dir Schneemänner baute, fingen die Menschen plötzlich zu jammern an und sahen beschämt aneinder vorbei. Denn nach und nach wurde im TV und in den Zeitungen die volle Wahrheit berichtet, von der man schon seit Jahrzehnten gewußt hatte. Und dann… dann gab es die erste große Katastrophe.

In New York wurde die Bombe gezündet. Keiner konnte es glauben. Du weißt noch, wie ich an dem Tag in die Schule rannte, dich mit nach Hause nahm, festhielt und Angst hatte, daß es jeden Augenblick auch hier losgehen würde. Du hast mich mit großen Augen angeschaut und geweint, weil du nicht wußtest, was geschehen war. Du hast mich damals gefragt. Aber wie konnte ich dir diese Welt nur erklären? Ich wollte dir Sicherheit und Geborgenheit geben. All das war mit einem mal verschwunden. Ich war im Schock, hielt dich fest und versuchte dir mit einfachen Worten irgendwie begreiflich zu machen, was geschehen war. Doch nicht nur ich, die ganze Welt war im Schock. Es stellte sich heraus, daß indische Terroristen es irgendwie geschafft hatten, eine kleine Atombombe nach New York zu schmuggeln. Am Abend dann gab es ein Video zu sehen, auf dem die Terroristen den USA den Krieg erklärten. Sie gaben den USA die Schuld am ausbleibenden Regen und der gewaltigen Hungerskatastrophe in Indien. Millionen verhungerten damals dort, während es uns eigentlich recht gut noch ging. Zwar hatten wir keine Palmen, aber dafür gerade noch ein erträgliches Klima. Die indischen Terroristen meinten, die USA hätten mit Satan im Pakt allen Muslimen den Krieg erklärt, hätten durch ihre Politik der Verschmutzung und der Massenausbeutung das Klima so geändert, daß das aufstrebende Indien ohne Monsunregen plötzlich am Verdörren war. Der Krieg würde nun in die USA getragen.

Natürlich war das Unsinn. Aber nicht wenige raunten hinter verhaltener Hand, daß die USA tatsächlich Schuld seien. Sie hätten schließlich nie irgendwelche Umweltabkommen unterzeichnet oder eingehalten. Daß wir selbst, trotz Mülltrennung und Recycling, auch nicht viel besser gewesen waren, konnte man auf diese Weise geschickt leugnen.

Die zwei Millionen Toten am ersten Tag interessierte das gewiß nicht. Die drei Millionen, die in den folgenden Wochen starben, sicherlich auch nicht.
Die USA schlugen zurück…
Der US-Präsident glaubte den Beteuerungen des indischen Präsidenten nicht, daß die Terroristen auf eigene Faust gehandelt hatten. Der CIA präsentierte plötzlich Beweise, die zeigten, daß indische Politiker beim Schmuggel der Atombombe nach New York beteiligt gewesen waren. Das reichte den USA. Sie erklärten Indien den Krieg und meinten, es wäre Selbstverteidigung. Die Welt schaute zu. Niemand unternahm etwas, jeder fürchtete, der nächste zu sein. Denn offenbar fehlten den Indern ein paar Atombomben. Die fanatischen Terroristen hatten der westlichen Welt den Krieg erklärt, den "Vernichtern allen Lebens und des Islams", wie sie meinten. Und so gab es zwar halbherzige Proteste, als die USA Indien bombardierten, das Nukleararsenal sicherten, Unzählige verhafteten und ganze Völkergruppen in Lagern einpferchte, doch nicht mal der indische Präsident damals protestierte sonderlich. Indien wurde mit viel Verlusten befriedet, wie es hieß, und die Demokratie dort gesichert. Die Muslime allerdings sahen das anders dort und erhoben sich. Also verbündeten sich die Hindus mit den USA und gemeinsam wurde den muslimischen Indern der Krieg erklärt. Was zu einem Staatsstreich in Pakistan führte, als die Muslime dort die Untätigkeit des Regimes nicht länger tolerieren wollten. Ehe die US-Bomber Pakistan erreichen konnten, hatte irgendein verzweifelter Irrer das pakistanische Atomarsenal bereits auf Indien losgelassen.

Neu Delhi wurde praktisch völlig zerstört. Indien war danach nicht mehr wiederzuerkennen. Die USA und der Rest der sogenannten Ersten Welt schlugen zurück und planierten Pakistan mit ihrem Arsenal. Wir hatten alle Angst vor dem Atomkrieg, du hast es damals zuerst nicht wirklich verstanden, du hast dich sogar über die schulfreie Zeit damals anfangs ein wenig gefreut. Ich weiß noch, wie du mich mit deinen großen, blauen Augen fragend angeschaut hast, als ich dich weinend im Arm hielt, während in den Nachrichten der aufsteigende Atompilz über der pakistanischen Hauptstadt gezeigt wurde.

Es gab keinen weltweiten Atomkrieg. China hielt still, Indien war verstümmelt und gezähmt und Pakistan existierte nur noch dem Namen nach. Die USA wurden nur halbherzig beschuldigt, doch die über fünf Millionen toten New Yorker ließen viele Kritiker verstummen. Amerikanische Geheimdienste verbreiteten die Nachricht, daß mindestens drei, vielleicht auch mehr als fünf Atomwaffen sich in den Händen von Terroristen befanden. Wie genau nun die Inder damit verbunden waren kam nie genau heraus, viele Beweise waren damals von den Bomben vernichtet worden. Irgendwie jedoch hatten muslimische Terroristen nun plötzlich ein kleines Atomarsenal zur Hand.

Es war der Beginn der geschlossenen Grenzen. Von nun an durfte so gut wie niemand mehr in die USA reisen, wenn er nicht von einem befreundeten Staat kam, sich vorher vom Geheimdienst durchleuchten ließ und praktisch jedes Detail seines Privatlebens offenlegte.
In der Europäischen Union war es nicht viel anders. Nur daß hier um einiges mehr Muslime als in den USA lebten und plötzlich alle hier mißtrauisch wurden. Keine schöne Zeit damals.

Im Winter 2035 wurde es allmählich klar, welche Auswirkungen das Verebben des Golfstroms langfristig haben würde. Irland und Großbritannien hatten bisher sehr stark vom Strom profitiert. Ohne ihn vereisten die Inseln zunehmend. Auf der Nordsee bildete sich allmählich Packeis, so daß man jetzt Eisbrecher brauchte, wenn man England per Schiff anfahren wollte. Nur daß kaum jemand noch wollte. London war bitterkalt geworden, unter einer Schneedecke förmlich begraben. Wenn Touristen nach London kamen, dann aus Sensationslust. Die völlig vereiste Tower-Bridge war zum Lieblingsmotiv von Photographen geworden. Die Landwirtschaft in England und Irland kam praktisch zum Erliegen. Während in Norddeutschland die Ernten immer magerer wurden. Aber wir waren stolz auf die Europäische Union. Andere Länder konnten den plötzlichen Mangel ausgleichen und so mußte niemand in England verhungern.

Norwegen und Schweden wurden ebenfalls tiefgefroren. In nördlicheren Breiten wurde es nun selbst im Sommer kaum noch warm. Ein Bericht im TV damals meinte, der Golfstrom hätte vor seinem Versiegen teilweise das Klima dort 13 Grad wärmer gemacht, als es eigentlich sein sollte, wenn man es mit gleichen Breitengraden in Kanada verglich. Und die Prognose war düster: Skandinavien und die britischen Inseln würden in absehbarer Zeit ein sibirisches Klima annehmen. Norddeutschland zur Tundra werden. Die Niederlande hatten immerhin in den Jahrzehnten zuvor ihre Deiche enorm erhöht, so daß die Sturmfluten das Land einigermaßen ungeschoren davonkommen ließen.

Indien verhungerte. Neu Delhi, Bombay und weite Teile der nördlichen Regionen waren aufgrund der Strahlung unbewohnbar. Die USA hatten nicht den Willen oder die Mittel, die Bevölkerung in den südlichen Landesteilen zu unterstützen. Und so dauerte der Frieden in Indien nicht lange. Millionen Menschen machten sich auf den Weg Richtung Europa. Wo wir Reichen ja genug zu Essen hatten.

Europa hatte bisher nur genickt und geschwiegen, während die Amerikaner in gewohnter Manier die Sachen geregelt hatten. Doch nun waren wir selbst in Gefahr. Wir schafften es gerade noch so, uns selbst ordentlich am Leben zu halten. Es waren keine Mittel da für Millionen und Abermillionen Inder, die nichts zu essen hatten. Nicht nur, daß der Monsun nicht mehr kam, weite Teile des Landes waren so verseucht, daß man dort ohnehin nichts mehr anbauen konnte.

Und so machten wir unsere Grenzen zu. Und stellten unsere Armeen auf. Es war anfangs nicht viel. Aber sehr viel mehr als das, was die Abermillionen Flüchtlinge hatten. Fast alle starben. 2035 war das Jahr, in dem der Wehretat erstmals um 20% erhöht und die allgemeine euopäische Wehrpflicht neu eingeführt wurde.

2036 marschierten US-Truppen in Saudi Arabien ein. Angeblich, um einen unmittelbar bevorstehenden nuklearen Terrorakt zu verhindern, den eine islamische Terrorgruppe geplant hatte. Es wurde tatsächlich auch eine kleine Atombombe gefunden. Nachdem die USA Saudi Arabien vollkommen besetzt, das korrupte Scheichregime abgesetzt und einen Großteil der islamischen Bevölkerung kaserniert hatten. Hinterher fand man Beweise für Verbindungen zu Terrorakten, die vor über 30 Jahren stattgefunden hatten. Ich kann mich nur noch dunkel daran erinnern, wußte aber schon als Kind, daß in New York damals etwas Schreckliches passiert war. Nicht zu vergleichen mit der Bombe. Aber damals fanden es alle schrecklich. Als man den Schrecken noch kaum kannte.
Und die Welt schaute erneut zu. Europa und Rußland halfen den Amerikanern sogar beim Befrieden der arabischen Halbinsel. Aufständische in den kleineren Staaten dort drohten mit heiligem Krieg, also wurden diese Staaten gleich mitbefriedet.

Im Herbst 2036 explodierte die Bombe in Tokio. Offenbar hatten ein paar muslimische Inder sich ein kleines U-Boot gebaut, waren dann mit einem Schiff vor die Küste in internationale Gewässer gefahren, hatten sich im Mini U-Boot dann auf den Weg gemacht, um in der Bucht von Tokio den "Heiligen Blitz", wie es im Bekennervideo hieß, zu zünden. Für sie gehörte Japan auch zu den Verbündeten Satans, die sich zum Ziel gesetzt hatten, durch Klimawandel und Ausbeutung der Ressourcen alle Muslime auf der Welt auszurotten. Tokio hatte Glück, daß an dem Tag der Wind günstig stand, und die radioaktive Wolke ins Meer hinaustrieb und so viele Menschen sich retten konnten. Die Weltwirtschaft war vorher schon in die Knie gegangen, danach existierte sie praktisch nicht mehr.
Arbeitslose gab es trotzdem wenige, weil die Armeen mehr und mehr Soldaten brauchten. Plötzlich wurde der Staat wieder zum größten Arbeitsgeber.

Es war noch 2036 als China ins islamische Indonesien einfiel und die USA und die verbündeten Europäer und Russen die Phillipinen und den Iran besetzten. Es wurden tatsächlich zwei Atomwaffen gefunden. Was Argument genug war, gleich dort zu bleiben.

2040 war klar, daß trotz stark angegriffener Weltwirtschaft, Milliardenpleiten und wertloser Aktiendepots die Erste Welt auch die Erste Welt bleiben würde. England und Irland sowie größte Teile Skandinaviens verwandelten sich zwar langsam in Eiswürfel, während in Asien zigmillionen Menschen verhungerten, doch Europa, die USA, Rußland, Japan und selbst China zogen an einem Strang. Die Chinesen selbst litten auch enorm und große Teile der Reisernte fielen aus, aber die Regierung dort besonn sich auf seine rigorosen Tugenden und ließ die ärmere Landbevölkerung einfach sterben, während die knapper werdenen Nahrungsmittel den Städten zugeführt wurden. Die USA besorgten sich ihr notwendiges Getreide zunehmend aus Mittel- und Südamerika. Heute haben die USA große Protektorate in Südamerika.
Und alle schauten zu. Und niemand tat etwas.

Die Terrorakte gingen weiter. Bis dann schließlich 2042 die letzte Atombombe, die einst aus Indien gekommen war, gefunden wurde. Und zwar als ein gewaltiger Rauchpilz über Jerusalem aufstieg.

Jetzt, 2046, wird klar, daß wir wohl die nächsten Jahrhunderte gewiß keine Palmen an der Elbe haben werden. Große Teile Englands sind mittlerweile so kalt, daß viele Briten auf den Kontinent gezogen sind. Einige nach Frankreich und Spanien, viele nach Deutschland, in den Osten und Norden, wo es nicht so dicht besiedelt war ohnehin und damit genug Platz noch gab. England und Irland selbst überleben nur noch aufgrund der Nahrungsmittelimporte. Dafür haben die Briten jetzt die größte Eisbrecherflotte der Welt. Allein die Skandinavier sehen das alles anscheinend etwas gelassener. Die meisten sind im Norden geblieben, kalte Winter kannte man vorher dort auch schon. Jetzt ist es halt das ganze Jahr über kalt. Man lebt zwar nicht sehr luxuriös dort, aber Südeuropa und vor allem die östlichen Teile der EU liefern zum Glück noch genug Nahrung für alle, so daß wir genug umverteilen können. Außerdem preisen die Forscher neue, kälteresistente Weizensorten an, die man in Labors gezüchtet hat und demnächst im Freiland groß getestet werden sollen. Woanders werden riesige Treibhausfarmen gebaut. Das Alte Land hier soll auch fast komplett überdacht werden, damit hier weiter Äpfel, Kirschen und neu auch Orangen und andere Früchte wachsen können. Und heute vormittag kam in den Nachrichten, daß das alte Atomkraftwerk wieder hochgefahren werden soll, wir brauchen jede Energie, die wir kriegen können.

Du fragst dich sicherlich, warum ich dir das alles schreibe. Wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich hier nirgendwo ein Warum stehen. Nur ein Wie. Wie alles kam. Warum aber bist du ab heute in Riad stationiert und bewachst zusammen mit anderen tausende Muslime in den Lagern während tagtäglich praktisch Terroranschläge verübt werden? Manchmal wache ich nachts auf und gebe mir die Schuld. Gebe mir die Schuld, daß ich als Kind und selbst als junge Erwachsene noch Palmen an der Alster oder Elbe recht schick gefunden habe. Ich habe auch über den Treibhauseffekt gelächelt und war der Meinung, daß etwas mehr Wärme den kühlen Sommern nicht schaden könnte. Und so haben wir alle in den Tag hineingelebt. Obwohl die Tatsachen bekannt waren. Experten sagen, daß man sogar schon in den späten 80er Jahren das vorigen Jahrhunderts davon wußte. Warum also haben wir es nicht verhindert? Warum ich nicht? Wie konnte ich dir das antun?

Mein Schatz, es fällt mir schwer, es dir zu schreiben. Aber manchmal wache ich auch auf und frage mich schweißgebadet, warum ich dich in so eine Welt hineingeboren habe. In eine Welt, die sich innerhalb weniger Jahre in eine immer kälter werdene Hölle verwandelt hat, die ihre Kinder in den heißen Wüstensand schickt, um dort unsere Interessen zu wahren.

Ich wollte du wärest hier bei mir. Ich würde alles tun, um dich hierzubehalten. Ich weiß, daß es nicht geht. Bitte paß einfach nur gut auf dich auf!

Nachdem heute morgen alles bleigrau war ist jetzt die Sonne herausgekommen und wir haben 8 Grad. Der letzte Schnee wird gewiß jetzt im Mai verschwinden und der Sommer wird endlich kommen. Ich hoffe, du bekommst dann etwas Heimaturlaub. Komm einfach nur gesund wieder.

Noch etwas, es lief jetzt gerade aktuell überall in den Nachrichten, ich weiß ja nicht, was die Vorgesetzten euch alles erzählen und was nicht: die NATO hat soeben begonnen, Kairo zu bombardieren. Angeblich ein nukleares Forschungslabor und andere militärische Einrichtungen. Ein Kommentator meinte, daß wir anscheinend auf das immer noch fruchtbare Gebiet am Nil ein Auge geworfen haben. Ich glaube, man wird bestimmt eine Atombombe finden.

Schreibst du mir dann, sobald du etwas Zeit hast? Heute abend treffe ich mich mit den anderen Müttern hier. Wir werden uns gegenseitig helfen, so gut es geht. Die Armee erlaubt zum Glück auch ein Paket pro Monat. Ich werde dir deine Lieblingsschokokekse backen und mit dem ersten Paket runterschicken.

Und vergiß nicht, dich immer gut einzucremen. Die Wüstensonne soll sehr hart sein und deine Haut ist doch so empfindlich.

In Liebe,
Deine Ma

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