© der Geschichte: Ewgenij Sokolovski. Nicht unerlaubt
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Mein bester Freund

Hallo, Marius. Ist das nicht irre, dass ich hier vor dem Rechner sitze und dir einen Brief schreibe? Wir sehen uns doch fast täglich, du bist mein bester Kumpel! Wieso sollte ich dir denn jetzt einen Brief schreiben wollen, fragst du dich wahrscheinlich. Keine Bange, die Erklärung kommt noch. Obwohl, eigentlich brauche ich dir gar nichts zu erklären, denn du wirst diesen Brief nie erhalten, und wirst ihn nie durchlesen können. Jetzt bist du wohl überrascht - was soll das denn sein? Er schreibt mir einen Brief und will ihn nicht abschicken. Wozu? Wofür? Hat er zu viel Freizeit, womit er nichts anstellen kann? Nein, Marius, so ist es nicht. Nicht so einfach. Die Sache ist, dass ich dir schon sehr lange etwas sagen wollte. Und andererseits wusste ich genau, dass ich es dir niemals erzähle, nie im Leben. Du wirst später verstehen warum. Es geht um unsere Freundschaft Marius. Du weißt ja, wir sind unzertrennlich. Erinnerst du dich noch, wann wir uns kennen gelernt haben? Ich hoffe schon. Das war noch in der Grundschule, als mich ein paar Jungs aus der Klasse im Hinterhof verkloppen wollten. Sie waren schon sehr nahe dran, als du aufgekreuzt bist und mich gerettet hast. Damals hatten noch alle Respekt vor dir. Obwohl… heute hat sich daran nicht wirklich viel geändert.

Du hast mir damals wirklich aus der Patsche geholfen. Die Leute wollten nach einer kurzen "Unterredung" nichts mehr von mir. Und mehr noch, du hast mich in den späteren Monaten allmählich zu deinem besten Freund erhoben. Warum eigentlich? Ich weiß es immer noch nicht genau. Vielleicht, weil es dir einfach Spaß machte, jemanden in der Nähe zu haben, mit dem du dich immer wieder vergleichen und deine Überlegenheit zur Schau stellen konntest. Oh, nein, du hast mich nie erniedrigt, nie deine Überheblichkeit offen gezeigt. Du dachtest, ich merke nichts. Du dachtest, ich weiß nicht Bescheid. Doch, Marius, seien wir doch mal ehrlich - ich habe mich noch nie zu besonders schlauen Leuten gezählt, aber so blöde bin ich auch wieder nicht. Es geht hier vielleicht sogar nicht um den eigentlichen Verstand, sondern viel eher um die Gefühlswelt. Ich habe es einfach gespürt, frag mich nicht wie. Ich wusste es einfach. Nichtsdestotrotz waren wir unzertrennlich. Dabei warst nicht nur du derjenige, der an unserer Freundschaft festhielt. Ich profitierte von ihr auch im höchsten Maße.
Der Respekt, den die anderen Menschen dir gegenüber immer zeigten, ist auch an mir nicht vorbeigekommen. Schließlich war ich ständig in deiner Nähe, und um es etwas metaphorischer auszudrücken - dein Schein hat auch meine Gestalt zum schwachen Leuchten gebracht. Nein, mit dir konnte man es keineswegs vergleichen. Aber wenigstens etwas, es war besser als nichts. Wir waren immer zusammen, und so konnte ich ab und zu etwas abfangen, was eigentlich für dich bestimmt war. Seien es Freunde, seien es Mädchen, oder gutes Verhältnis zu den Lehrern. Du hast mir schon viel gegeben, sehr viel. Ich glaube, niemand in meinem ganzen Leben hat mir je mehr gegeben als du. Doch weißt du, Marius, das wird dich jetzt wahrscheinlich wirklich überraschen, aber ich habe auch niemanden mehr gehasst als dich. In meinem ganzen Leben. Mach dir keine Vorwürfe - du hast keine Schuld daran. Du bist einfach so wie du bist - nicht mehr und nicht weniger. Und ich bin, wie ich bin. Es konnte gar nicht anders gehen. Was ich mich allerdings immer gefragt habe, war - merkst du denn wirklich nichts davon? Oder tust du nur so, um unsere langjährige Freundschaft nicht zerbrechen zu lassen. Ich denke, es ist eher das Erste. Menschen von deiner Art, Menschen, die alles mit solcher Leichtigkeit kriegen können, zu denen alle Leute um sie herum so freundlich und aufgeschlossen sind, diese Menschen sind in Wirklichkeit schwach. Sie können gar nicht daran denken, dass jemand aus ihrem Freundeskreis etwas Böses gegen sie im Schilde führen kann. Solche Leute sind es einfach nicht gewöhnt, dass jemand etwas gegen sie hat. Oh doch, wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten haben sie Feinde. Dessen sind sie sich auch völlig bewusst. Doch diese Feinde sind immer irgendwo draußen, außerhalb ihres täglichen Lebens. Man hat eine vage Vorstellung, dass es sie gibt, doch man will es nicht wahrhaben, nicht an sich heranlassen. Und so kommt es, dass solche Menschen in der Überzeigung leben, sie wären von allen aus ihrer nächsten Umgebung geliebt, denn wieso sollte man sie auch hassen? Es gibt wirklich keinen rationalen Grund dafür. Doch etwas habt ihr übersehen, ihr - Mariuse dieser Welt. Die Menschen sind nämlich keine rationalen Wesen. Sie handeln nicht logisch. Sie sind manchmal unerklärlich, verrückt und inkonsequent. Ich brauche keinen Grund, um dich zu hassen. Ich hasse dich, weil du existierst, weil alle anderen Leute dich mögen, und weil du immer das Beste vom Leben genießen durftest.

Doch lassen wir lieber die weiteren Ausführungen aus. Ich schreibe dir diesen Brief nicht mit dem Zweck, meine Psyche zu analysieren und auf Papier zu bringen. Vor allem soll sie nicht von dir analysiert werden.
Also, wo bin ich stehen geblieben? Ach ja, wir waren unzertrennlich. Du hast mir vertraut, ich denke, mehr als jedem anderen von deinen zahlreichen Freunden. Du hast mir von deinen Freuden und Sorgen erzählt, manchmal sogar um einen Rat gebeten. Ich war immer voller Aufmerksamkeit und Interesse. Aber aus einem ganz anderen Grund als du denkst. Durch diese Gespräche konnte ich nämlich deine wunden Stellen ausfindig machen. Jeder Mensch hat solche. Doch er gibt sie sehr ungern preis, außer - bei einem guten Freund. Bei seinem besten Freund.

Erinnerst du dich noch an die Geschichte mit Sylvia? Deiner ersten großen Liebe? Wie lange wart ihr damals zusammen? Ich glaube, es war in etwa ein ganzes Jahr. Hast du dich niemals gefragt, warum sie dich nach den Sommerferien so aus dem nichts verlassen hat? Warum sie dich gar nicht mehr sehen wollte und nicht ans Telefon kam? Sicherlich hast du das. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie du dein Herz bei mir auf der Schulter ausgeschüttet hast. Damals sagte ich, dass man die Frauen sowieso nicht verstehen kann, dass sie halt manchmal Hirngespinste kriegen, die wir - Männer einfach nicht nachvollziehen können. Sie sind nun mal so.

Eine solche Erklärung kommt bei den Männern immer gut an. Es ist ja schließlich viel angenehmer, die Schuld der Frau in die Schuhe zu schieben als mal ausnahmsweise in sich selbst etwas tiefer hineinzuschauen. Und du warst trotz all deiner Qualitäten keine Ausnahme.
Jetzt kann ich dir aber die wirkliche Ursache nennen. Alles war wesentlich banaler. Keine Hirngespinste, keine unerklärliche Frauenseele. Nichts dergleichen.

Wir waren mal mit ihr zusammen essen, nur als gute Freunde selbstverständlich. Und plötzlich (wie konnte mir nur so was passieren?) habe ich mich verplappert. Ich habe eine gewisse Kathrin erwähnt, mit der du dich angeblich vor kurzem getroffen hast. Sylvia wurde natürlich neugierig. Sie fing an, mich auszufragen. Und wie es sich für einen wirklich guten Freund gehört, habe ich zuerst versucht, ihren Fragen auszuweichen. Ich sagte, es wäre nichts Bedeutendes (womit ihre Neugier nur noch mehr gereizt wurde) und gar nicht der Rede wert. Ich meinte, dass sie dich am besten selbst fragen soll und dass ich keine Lust habe, mich in eure Angelegenheiten einzumischen. Jetzt saß sie schon fest genug am Hacken, ich konnte die Angel anziehen. Oh Markus, du wirst gar nicht glauben, wofür meine Phantasie alles fähig ist. Noch nie war ich so überzeugend und meine Rede so eindrucksvoll. Und das Interessante dabei war, dass Sylvia mir am Ende noch gedankt hat! Bevor sie tränenüberströmt aus dem Cafe stürzte meinte sie sogar, ich wäre einer der wenigen wirklich guten Kerlen auf diesem gottverdammten Planeten. Ich! Ich musste mich wirklich sehr anstrengen, um bei diesen Worten nicht in Lachen auszubrechen.

Na ja, sie war halt ein stolzes Mädchen. Sie hat mir alles abgekauft und wollte nichts mehr von dir hören. Keine Erklärungen, keine Entschuldigungen, nichts.
Na? Ist das nicht toll, endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die dich so lange gequält hat? Ein tolles Gefühl!

Hmm, jetzt habe ich dir etwas aus meinem Geheimniskasten ausgeplaudert. Willst du noch etwas hören, Marius? Es liegt viel interessantes Zeug hier drin. Besonders interessant für dich. Wie wär's damit: was glaubst du, wer vor ein paar Jahren drei Seiten aus deinem Vortrag für die Projektpräsentation entnommen und durch leere Blätter ersetzt hat? Du hast wahrscheinlich gedacht, dass es der Drucker schuld wäre (obwohl du immer alles kontrollierst, besonders bei solchen wichtigen Sachen). Nein, mein lieber und nichtsahnender Marius, ich war es, ich. Als ich kurz davor bei dir vorbeigekommen bin und dir viel Erfolg gewünscht habe. Mann, war das aber eine Blamage, schade nur, dass ich sie nicht persönlich erleben durfte. Aber es reichte auch aus, was du mir später selbst davon erzählt hast. Echt, Marius, du hättest dich sehen sollen. Ich bin dann zu Hause fast vor Lachen gestorben!

Es gab auch andere Kleinigkeiten. Mal habe ich mich bei deinen Eltern verplappert, wofür du dann anschließend eine Woche Hausarrest gekriegt hast. (ich hab sie natürlich angefleht, dass sie ihre Informationsquelle auf keinen Fall preisgeben). Mal ein kleiner Computervirus bei dir auf die Festplatte, sodass deine Arbeit von mehreren Tagen in einer Millisekunde futsch war. Mensch, es gibt doch so viele schöne Dinge, die man seinem besten Freund machen kann! Das kannst du dir alles gar nicht denken!

Aber Eines betrübt mich noch. Trotz all meiner Anstrengungen lebst du fröhlich weiter. Ich konnte dir bis jetzt nicht wirklich viel anhaben. Doch, weißt du, ich kann auch sehr lange warten. Irgendwann, irgendwann sehe ich die Gelegenheit. Irgendwann werde ich dein Leben zerstören, mein bester Freund Marius. Und wenn du dann hilfesuchend die Arme nach mir ausstreckst, dann werde ich deine schönen Finger zertreten. Und in dein dreckiges Gesicht spucken, Marius. Ich habe dann gewonnen, ich habe gewonnen.

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