von Dr. Manfred Korth

Ist Ihnen dieser Spruch schon mal entgegen geschleudert worden? Wenn nicht, dann gehören Sie zu den tragenden Säulen dieser Gesellschaft. Sie machen demnach alles richtig, d.h. Sie brauchen nicht weiter lesen, denn Ihr Leben ist strukturiert, kanalisiert, organisiert. Sie befinden sich am Puls der Zeit. Sie sind vom Bazillus des Rastlosen infiziert - Glückwunsch. Übrigens hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass der Krug nur so lange zum Brunnen geht, bis er voll ist. Es sei denn, der Krug hat einen Riss - quasi einen Sprung in der Schüssel, ja dann rennt er ewig.

Interessant ist, zu welchen Anlässen die Phrase "Du musst aber Zeit haben!" abgelassen wird. Meist hat der Gefragte etwas geleistet, das nach den Maßstäben der Leistungsgesellschaft nicht allzu viel einbringt, also nach materiellen Gesichtspunkten keinen Gewinn abwirft, jedoch als erstrebenswert gilt. Beispielsweise schrieb die Person ein Gedicht, komponierte ein Lied oder malte ein Bild. Gerade Berufstätige, die sich in ihrer Freizeit mit musischen Dingen beschäftigen, werden häufig mit dieser Frage konfrontiert.

Was steckt hinter dieser unreflektierten Aussage? Wird hier vielleicht vorwurfsvoll, fast neidisch, moralisiert? Schließlich hat der Fleißige und Geschäftigte grundsätzlich keine Spielräume. Zeit zu haben ist in unserer Gesellschaft anrüchig. Außerdem könnte der Fragende, falls er nur genügend Zeit hätte, selbstredend ebenfalls hervorragend dichten oder malen - wer würde daran zweifeln! Auch Kreativität ist doch nur eine Frage der Zeit, weiß der Sklave der Zeit zu berichten.

Betrachten wir die Angelegenheit nüchtern und emotionslos: Jedem Menschen stehen täglich 24 Stunden zur Verfügung. Fragen ergeben sich nur im Detail: Wie teilt er seine Zeit ein? Wo liegen seine persönlichen Schwerpunkte? Welchen Lebensweg favorisiert er? Zu was lässt er sich verpflichten?

Vor allem der Beruf beeinflusst unsere Einstellung zur Zeit, was sich wiederum im Verhalten niederschlägt. Spätestens seit der Industrialisierung bestimmt die Firma maßgeblich den Rhythmus in den Familien. Arbeitszeiten wirken auf Struktur und Organisation der Lebensgemeinschaft. Und wäre dies nicht so traurig, würden Politiker, die selbst jede Woche 70 Stunden durch die Gegend stolzieren und den Verfall der Familie beklagen, eine beispielhafte Lachnummer abgeben.

Firmen bieten Seminare zum Zeitmanagement. Betriebswirtschaftlich wird die Philosophie des "Schneller, höher, weiter" propagiert, was selten im direkten Verhältnis zur Bezahlung des Arbeitnehmers steht. Natürlich ist es legitim, dass ein Arbeitgeber die 8 Stunden optimal genutzt haben möchte - nur sollte dies ungeniert benannt werden. Verrückt wird es erst, wenn so getan wird, als wären persona publica und persona privata identisch.

Irgendwie scheint es Usus zu sein, keine Zeit zu haben. Dies verweist auf die Wichtigkeit und Bedeutung einer Person. Diese berufliche Ideologie überschattet den gesamten Lebensraum des Menschen. Sogar Rentner, obwohl Jenseits von Produktion und Leistung, verfolgen diese Einstellung stur weiter. Sie hetzen von einem Sonderangebot zum nächsten.

Warum begibt sich der Mensch in Zeitnot? Objektive, oder sagen wir besser greifbare Kriterien lassen sich kaum anführen. Kürzere Arbeitszeit (im Vergleich zu früheren Dekaden), unzählige Hilfsmittel (Spülmaschine und Computer) und schnelle Fortbewegungsmittel (Auto statt Kutsche) stehen unserer subjektiv knapp empfundenen Zeit gegenüber. Wer von uns handelt als Topmanager und muss Tag und Nacht darüber nachdenken, wie er Menschen entlassen und dabei gleichzeitig die Produktion steigern kann? Dieses produktive Vorgehen erhöht bekanntlich den Aktienwert und rechtfertigt 6stellige Gehälter. Übrigens, falls sich so ein Topmann (meistens Männer!) mal verkalkuliert, ist das nicht tragisch: die Arbeiter werden entlassen und unsere Spitzenkraft sucht sich nach Auszahlung einer dicken Abfindung einen neuen Betrieb, den er sanieren kann.

Ebenfalls tragen nicht alle von uns die Last der oft zurecht gescholtenen Politiker. Klar, bei diesen immer Präsenten und Omnipotenten ist schon der Gang zur Toilette als historisches Ereignis einzustufen. Es gelingt ihnen zwar nicht, Großkonzernen die Steuern abzuverlangen, dafür kassieren sie selber - legal, versteht sich - so manche Vergünstigung steuerfrei.

Verharren wir kurz bei uns Normalverbrauchern und lassen die Machtbeflissenen mal außen vor, denn die sind sowieso nicht zu retten, da sie ja unwiderruflich mit unserer Rettung ausgelastet sind.

Wie nütze ich meine Zeit? Wie empfinde ich Zeit? Diese Fragen können nur subjektiv beantwortet werden. Deshalb brauchen wir uns hier nicht lange aufhalten. Ratschläge und Rezepte schießen übers Ziel hinaus, wenn es um das Fühlen und Empfinden des einzelnen Menschen geht. Nur wer in sich selbst hinein hört, reflektiert und abwägt, wird individuelle, maßgeschneiderte Lösungen finden und sein Leben in Richtung Zufriedenheit ausbalancieren.

Interessanter wird es, den Spieß umzudrehen: Wieso haben diese Vielbeschäftigten keine Zeit? Können sie ihre Zeit nicht einteilen? Fehlt ihnen ein Plan? Verbummeln sie oder können am Ende keine Prioritäten setzen? Was ist ihnen so wichtig, dass sie angeblich keine Zeit (beispielsweise für ein gutes Gespräch oder Buch) finden? Wie verschwenden sie ihre Zeit?

Sie alle würden ja gerne lesen, wenn sie nur die Zeit dafür hätten. Seneca schrieb: "Es ist einerlei, wieviel Zeit den Vielbeschäftigten gegeben sein mag, wenn kein Punkt da, wo sie haften bleibt; durch schadhafte und durchlöcherte Seelen rinnt sie hindurch."

Nehmen wir doch mal das Schlimmste an. Lassen wir den persönlichen Supergau zu. Was passiert, wenn einer dieser Unersetzbaren ausfällt? Richtig! Er wird ersetzt. Steckt hinter diesem Wunsch nach Unentbehrlichkeit nicht die pure Angst, Macht und Einfluss einzubüßen? Was passiert, wenn die anderen merken, dass ich entbehrlich bin? Lieber nicht nachdenken, sondern funktionieren. Entkorkt wird der Zeitgeist, der Wein bleibt in der Flasche.

An dieser Stelle erlauben Sie mir zwei banale Fragen: Sollte sich nicht gerade eine Leistungsgesellschaft Nachdenklichkeit leisten? Was bewirken Führungskräfte, die sich keine Zeit nehmen?

Selbstredend sollte jeder seine eigenen Schwerpunkte setzen. Dies gilt für den Vielbeschäftigten und den Unentbehrlichen, selbst wenn sie auf Grund von Zeitnot kaum bis zum Denken vorstoßen. Dies muss aber auch für Menschen gelten, die lieber malen, schreiben und in der Sonne sitzen. Zu Ende gedacht entblößen Vorwürfe und Fragen in die Richtung 'Du musst aber Zeit haben' den Fragenden in seiner eigenen Unfähigkeit der Zeiteinteilung und Gewichtung des Lebensentwurfes.

Sollte Ihnen wieder mal so ein süffisant Fragender begegnen, verweisen Sie ihn auf diesen Artikel. Aber ich befürchte, er wird die Zeit nicht finden, ihn zu lesen, geschweige denn hierüber nachzudenken.
Beenden möchte ich diese Überlegungen mit Tolstoi: "Denke immer daran, dass es nur eine allerwichtigste Zeit gibt, nämlich: sofort! - das ist die wichtigste Zeit, weil wir nur sofort noch über uns verfügen können."

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