von
Guido Bergmann


Es war im März 1990, als ich auf der Hannover-Messe ein Modell eines Raumschiffs bewunderte: einen flachen schwarzen Pfeil, das Cockpit tief in die Nase eingebettet, der flache Rumpf sich nach hinten organisch zu Deltaflügeln verbreiternd, oben in eine leichte Mulde hingeduckt ein kleines Shuttle, und unten am Heck die mächtigen Triebwerke, die die ganze Breite des Rumpfes einnahmen. So etwa, dachte ich mir, könnten die ersten romulanischen Warbirds ausgesehen haben. Aber ich stand nicht vor einem Warbird, sondern vor dem Modell eines Raumgleiters: SÄNGER.

Das war nicht Science Fiction, nicht Star Trek, es war (beinahe) greifbare Realität.

Ich konnte eine Simulation eines Fluges miterleben, die darin bestand, die Eintrittstemperatur der Luft in die Triebwerke anzuzeigen. Naja, nicht sehr spektakulär, könnte man meinen, jedoch für mich, der sich mit der Suche nach geeigneten Materialien für diese Triebwerke beschäftigte, eine aufregende Angelegenheit. Ein Traum schien sich zu erfüllen. Seit der Mission von Apollo 8, meiner frühesten bewußten Kindheitserinnerung an die Weltraumfahrt, hatte mich ihre Faszination nicht losgelassen. Die Erstausstrahlung von "Raumschiff Enterprise" brachte meine Leidenschaft für Technik und Naturwissenschaften, und Raumfahrt im besonderen, endgültig zum Durchbruch. Dank Scotty war ich Physiker geworden, und nun stand ich leibhaftig vor einem Modell des Raumgleiters, an dessen Entwicklung ich selbst mitarbeitete.

In den achtziger Jahren gab es im Rahmen des Förderprogramms "Hyperschalltechnologie" des BMFT (Bundesministerium für Forchung und Technologie) das nationale Forschungs- und Entwicklungsprojekt namens SÄNGER mit dem Ziel, einen zweistufigen Raumgleiter zu bauen. Er sollte waagerecht starten und landen können und vollständig wiederverwendbar sein. Beide Eigenschaften sollten dazu führen, Transporte in den Weltraum endlich so kostengünstig durchführen zu können, wie man sich das ursprünglich schon vom Space Shuttle erwartet hatte. Diese Hoffnungen haben sich bisher mit dem Shuttle nicht erfüllt, die Rakete Ariane ist, obwohl ein Wegwerfprodukt, konkurrenzfähig. Echte Wiederverwendbarkeit aller Komponenten sowie die Möglichkeit, ohne teure Infrastruktur wie spezielle Startrampen und ohne ein kompliziertes Aufrichten in eine senkrechte Startposition von gewöhnlichen Flughäfen starten und landen zu können, sollte den finanziellen Durchbruch bringen. Das würde ein wesentlich breiteres Anwendungsspektrum für Grundlagen- und Industrieforschung bedeuten, sogar die Produktion von Gütern, die sich nur unter Mikroschwerkraft herstellen lassen, wäre bei genügend niedrigen Nutzlastkosten denkbar. [1]

Begonnen hatte alles bereits im Jahre 1938. Damals begannen Eugen Sänger als Leiter des Instituts für Raketentechnische Grundlagenforschung und seine Mitarbeiterin, die Mathematikerin Irene Bredt, die Entwicklung eines Überschallgleiters mit Raketenantrieb. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte ein solches Projekt aufgrund seiner möglichen strategischen Bedeutung nur in die Entwicklung einer Waffe münden. Der Gleiter wurde zu einem einsitzigen Raketenfernbomber. Bomben auf New York - kein hehres, eher ein Luftwaffenziel. Dieses Flugzeug sollte mit Hilfe eines Raketenschlittens und zweier Zusatzraketen waagerecht starten und schließlich mit Hilfe seines eigenen Raketenmotors bei einer Endgeschwindigkeit von 22100 km/h eine Höhe von 145 km erreichen. (Zum Vergleich: Heutige Verkehrsflugzeuge haben eine Reiseflughöhe von etwa 10 km, und die Umlaufbahn des Sputnik lag zwischen 228 und 947 km "Höhe".) Danach sollte er bis auf 40 km Höhe herabgleiten, aber durch wiederholtes Abprallen an tieferen Atmosphärenschichten immer wieder Höhe gewinnen, solange bis der Schub aufgebraucht wäre. Schließlich sollte er wie ein normales Flugzeug landen.

Im Jahre 1944 stellten Sänger und Bredt dieses Raumgleiterprojekt vor - zu spät für eine Realisierung. Praktische Anwendung erlangte dagegen Sängers parallele Entwicklung eines Staustrahl-Triebwerkes. Dessen Arbeitsweise ist folgende: Von vorn in das Staurohr einströmende Luft wird durch den sich nach hinten erweiternden Rohrdurchmesser zunächst verdichtet (gestaut), anschließend der Brennkammer aufgeheizt und dadurch beschleunigt nach hinten ausgestoßen. Die Geschwindigkeitserhöhung der Luft in der einen Richtung sorgt für den Vortrieb in der anderen Richtung. Die Verdichtung durch eine Erweiterung des Rohrdurchmessers hört sich zunächst widersinnig an, beruht aber auf denselben Gesetzen, die beispielsweise ein Flugzeug fliegen lassen: Langsam strömendes Gas (an der Unterseite einer Tragfäche oder in einem weiten Rohr) erzeugt einen höheren Druck als schneller strömendes (an der Oberseite oder in einem engen Rohrquerschnitt).

Ein solches Staustrahltriebwerk kommt ohne bewegliche Teile aus. Sie wurden praktisch als Zusatzantrieb und Steighilfe für Jagdflugzeuge eingesetzt. Ein reiner Staustrahljäger ("DM1") wurde noch als Modell gebaut, aber nicht mehr erprobt. [2]

In den sechziger Jahren erinnerte man sich bei der Firma Junkers an die Raumgleiter-Pläne und entwickelte in der Arbeitsgemeinschaft "Rückkehrtechnologie" das Projekt unter dem passenden Namen "Bumerang" weiter, unter anderem wurden weitreichende aerodynamische Studien durchgeführt. [4] Ein Resultat, nämlich ein Raumschiffmodell für Schlepptests an einem Hubschrauber und Gleitflug-Experimente, kann man im Deutschen Museum in München bewundern. Ein Besuch dort lohnt sich nicht nur dafür, sondern ist jedem technisch interessierten Scotty-Fan wärmstens zu empfehlen.

Wiederum fast 20 Jahre später nahm das Raumgleiterprojekt seinen dritten Anlauf. Zu Ehren von Professor Eugen Sänger wurde es nun SÄNGER genannt. An der Entwicklung nahmen unter anderem die Firmen MBB und MTU teil. Die federführende MBB war über die Übernahme der VFW Fokker, die ihrerseits die Firma Junkers übenommen hatten, an die alten Junkers-Pläne gelangt. Die Entwicklungen von MBB und MTU wurden schließlich unter dem Dach der Daimler-Benz-Tochter Deutsche Aerospace vereinigt.

Das Konzept sah einen zweistufigen Gleiter vor, dessen erste Stufe nun ein Hyperschall-Stratosphärenflugzeug darstellte, das auf gewöhnlichen Flughäfen waagerecht starten und landen sollte. Es sollte eine Höhe von 40 km erreichen und als zweite Stufe entweder eine Frachtrakete (CARGUS) oder einen bemannten eigentlichen Raumgleiter (HORUS) mitnehmen, die von dort aus mit eigenem Antrieb eine Umlaufbahn erreichen sollten. Beide Orbiter waren als Zubringer für jeweils bis zu 3,3t Personal und Frachtgut zur einst geplanten europäischen Raumstation "Columbus" gedacht. Aus Columbus wurde inzwischen das europäische Modul der internationalen Raumstation Alpha.

Die Bezeichnung "Stratosphärenflugzeug" war für den schwarzen Pfeil, der die erste Stufe darstellte, aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt: Eine Variante sah für sie tatsächlich die Funktion eines Flugzeuges für etwa 250 Passagiere vor, die mit vielfacher Überschallgeschwindigkeit (Mach 7) an ihr Reiseziel gelangen sollten, das bedeutet Düsseldorf - New York in 100 Minuten! Zum anderen sollte der Antrieb dieser Stufe mit luftatmenden Turbo-Staustrahl-Triebwerken erfolgen, einer Kombination aus Turbine (für Geschwindigkeiten bis 3,5 Mach) und Staustrahltriebwerk (bis Mach 7). In dieser Form wurden beide früheren Entwicklungen Eugen Sängers, der Raumgleiter und das Staustrahltriebwerk, im Raumfahrtprojekt SÄNGER vereinigt. [1]

Als Treibstoff sollte für den Start und in Bodennähe möglicherweise konventionell Kerosin, in größeren Höhen und der Stratosphäre jedoch auf jeden Fall Wasserstoff verwendet werden. Wasserstoff ist der einzige praktikable Treibstoff, der sich mit dem in 40 km Höhe nur noch spärlich vorhandenen Luftsauerstoff noch verbrennen läßt. Der Wasserstoff hat in Form eines flüssig/gasförmigen Gemisches anfangs eine Temperatur von etwa -258°C, und schließlich werden bei der Verbrennung etwa 3000°C erreicht. Allein diese Spanne an Temperaturen stellt eine enorme Herausforderung an die verwendeten Materialien dar, schlimmer aber ist die Beanspruchung, wenn ein- und dasselbe Bauteil einem großen Temperaturbereich ausgesetzt ist, wie beispielsweise beim Lufteinlaß für die Triebwerke oder der vorderen Tragflächenkanten. Durch den waagerechten Start und die relativ flache Flugbahn bleibt ein Raumgleiter relativ lange in "dichten" Atmosphärenschichten. Das wird einerseits ja zur Speisung der Triebwerke mit Luftsauerstoff ausgenutzt, führt aber andererseits zu großer, relativ lange andauernder Erwärmung durch Luftreibung.

Und damit nicht genug: Wasserstoff hat aufgrund der Winzigkeit seiner Atome die Eigenschaft, sehr leicht in Metalle einzudringen und deren Materialeigenschaften in schädlicher Weise zu verändern: Belastbares, bruchfestes, duktiles Material kann unter Wasserstoffeinfluß spröde und instabil werden und plötzlich unter geringer Belastung brechen. Ein auf diese Weise versagendes Triebwerk führt nicht nur zum Totalausfall des Antriebs, sondern die radial davonfliegenden Turbinenschaufeln werden das gesamte Flugzeug zerlegen.

Ausgerechnet der für Triebwerke typische Temperaturverlauf ist sehr schädlich: in heißem Zustand ist die Beweglichkeit des Wasserstoffs sehr hoch, er dringt in das Material ein, um dann beim Erkalten zur Zerstörung zu führen.

Eine der Herausforderungen bestand also darin, Materialien zu finden, die den geschilderten extremen Bedingungen standhielten. Ein weiteres Problem war es, die überschallschnellen Luftströme im Triebwerk zu kontrollieren. Die nötige Verdichtung sollte bei höheren Geschwindigkeiten allein durch die hohe Relativgeschwindigkeit zwischen Triebwerk und einströmender Luft in Verbindung mit der Geometrie des Staustrahlrohrs erreicht werden. Im unteren Geschwindigkeitsbereich ist dagegen eine konventionelle Turbine mit stehenden und beweglichen Schaufelkränzen erforderlich - eine komplizierte Konstruktion. Durch das zweistufige Gleiterkonzept ersparte man sich wenigstens den letzten Schritt der Komplexität des Antriebes, indem HORUS für die höchsten zu erreichenden Geschwindigkeiten und für den erdnahen luftleeren Raum über ein eigenes Raketentriebwerk verfügen sollte. Trotzdem, die Staustrahltechnik hätte sich gelohnt: Sie ist im mittleren Geschwindigkeitsbereich am wirkungsvollsten und erlaubt eben die Verwendung von Luftsauerstoff zur Verbrennung, was mehrere 100 Tonnen an mitzunehmendem Treibstoff einspart. [3]

Beispielhaft noch ein weiteres Problemfeld: Vordergründig betrachtet ist Wasserstoff als Treibstoff denkbar umweltfreundlich er verbrennt zu Wasser. Welche Folgen aber haben größere Mengen von Wasserdampfwolken in 40 km Höhe auf das Weltklima?

Zusammengefaßt: Von einer Verwendung "verfügbarer Technologie" [1] konnte großenteils keine Rede sein. SÄNGER lieferte eine Fülle von Herausforderungen auf den Gebieten der Aerodynamik, Materialforschung, der Triebwerkstechnik und nicht zuletzt der Umweltforschung.

Schließlich haben, wie bei einem Projekt dieser Größenordnung zu erwarten, Kostengründe zur Einstellung dieses nationalen Raumfahrtprojekts geführt. Es gab Anfang der Neunziger Jahre verständlicherweise andere nationale Aufgaben, die großen finanziellen Einsatz erforderten. Die sog. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Technikfolgenabschätzung, deren erste Aufgabe es war, eine Beurteilung des Sänger-Projekts durchzuführen, kam zu dem Schluß, daß ein nationales Raumgleiterprogramm ohne eine eigene Raumstation, zu der ein Raumgleiter als Zubringer fungiert, sinnlos sei. Daraufhin wurde das Programm "Hyperschalltechnologie" nicht weiter fortgeführt.

Auch persönlich hat es Rückschläge gegeben, und da halfen auch keine vermeintlich tröstenden Worte wie "Herr Bergmann, Sie müssen kein Raumschiff bauen". Aber aufgewogen wurden sie durch Momente wie den, als ich drei weit voneinander entfernte Meßpunkte in ein Achsenkreuz eintrug und sie auf derselben Geraden lagen. Die Bedeutung wird wohl kaum jemand nachempfinden können - in diesem Fall waren sie die Bestätigung für die Richtigkeit und Anwendbarkeit meiner Meßmethode und lieferten die ersten zusammenhängenden Ergebnisse.

Geblieben sind mir ein kleines Modell auf meinem Schreibtisch, die Erinnerung an einige Jahre leidenschaftlicher Forschungsarbeit und das Bewußtsein, ein paar kleine Mosaiksteinchen zu unserem großen Traum beigetragen zu haben, dem Weg zu den Sternen zu finden.

Literatur:

[1] Anatol Johansen, Bild der Wissenschaft 12/1989,
Beilage "Die Welt in 25 Jahren", S. 28

[2] Ernst Peter, Der Weg ins All, Motorbuch Verlag, Stuttgart, 1988

[3] Eugen Sänger, Raumfahrt heute - morgen - übermorgen,
Econ Verlag GmbH, Düsseldorf, 1963, S. 195

[4] Uwe Seidenfaden, Bild der Wissenschaft 4/1997, S. 38

© 1998 Guido Bergmann -
zuerst veröffentlicht in STARBASE 11,
einem nichtkommerziellen Fanzine des Star Trek Forum

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