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von Thomas Otto
Schlägt man in der Encarta Enzyklopädie von Microsoft unter dem
Stichwort "Moderne Kunst" nach kann man folgendes als einleitenden
Text lesen:
Die grundsätzliche Unangemessenheit und Überholtheit
künstlerischer Prinzipien im ausgehenden 19. Jahrhundert bildete
den Ausgangspunkt der modernen Kunstauffassung. Deren ästhetische
Revolution führte zu einer Fülle von Bewegungen wie Fauvismus,
Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus, Surrealismus,
Neoplastizismus und Minimal Art.
Diese Worte sind sinnbildlich für die Meinung der meisten Kunstkritiker,
Kunsterzieher und Galeristen heutzutage. Die Encarta erklärt zwar
nicht, was an der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts "grundsätzlich
unangemessen" oder "überholt" war, aber es herrscht
kein Zweifel darüber, daß die Mehrheit der Kunstkritiker, Kunsterzieher
und viele Galeristen dieser Meinung sind und es deshalb wohl auch wahr
sein muß.
Ich habe damals auf dem Gymnasium im Unterrichtsfach Kunsterziehung (es
hieß nicht einfach nur "Kunst") von den Kunstlehrerinnen
und - lehrern beigebracht bekommen, was gute Kunst ist - nämlich
die Moderne Kunst - und was überholter Kitsch ist: eigentlich all
das, was man als Kind oder Jugendlicher erst einmal als schön empfindet.
Bis man beigebracht bekommt, was man gut und schlecht zu finden hat. Ganze
Generationen haben so eine Kunsterziehung genossen.
Mir hat sich besonders eine Szene eingeprägt, als wir mit unserer
Kunstlehrerin in der Hamburger Kunsthalle waren. Eine größere
Gruppe von Schülern war vor einem Gemälde Caspar David Friedrichs
stehengeblieben. Dies ließ unsere Lehrerin abfällig lächeln
und sie meinte nur "Das gefällt Euch, weil es so schön
ist, was?". Und ihr Tonfall ließ keinen Zweifel offen, daß
das Gemälde schlechte Kunst ist, auch wenn wir alle etwas ganz anderes
fühlten.
Wie kommt es aber, daß Kunst aus dem 15., 16. oder 17. Jahrhundert
durchaus Ansehen genießt, die akademische (das Wort wird meist abwertend
gebraucht) Malerei des 19. Jahrhunderts aber nicht? Jeder kennt Rembrandt,
jeder kennt Picasso - aber wer hat schon einmal etwas von William Bouguereau
(1825 - 1905) gehört?

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William Bouguereau war im 19. Jahrhundert einer der angesehensten
Maler seiner Zeit. Seine Gemälde waren für viele
damals der Höhepunkt der Malerei. Die Art und Weise wie
er Menschen darstellen und auf die Leinwand bringen konnte
erreichte eine Qualität wie es sie so vorher noch nicht
gegeben hatte. William Bouguereau war
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Pablo Picasso
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William Bouguereau
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hauptverantwortlich für die Öffnung der
Pariser Akademie der schönen Künste für Frauen, denen bis dato
das Studium der Malerei versagt worden war. Warum also geriet er - zusammen
mit vielen seiner Zeitgenossen - derart in Vergessenheit und sogar Ungnade?
Man kann z.B. in der Encarta, aber auch in anderen üblichen Handlexika,
keinen Eintrag zu William Bouguereau finden.

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Kunstkritiker stellen Bouguereau und seine Malerkollegen wie
Jean-Leon Gerome und Sir Lawrence Alma-Tadema gerne als Verhinderer
des Fortschritts dar, weil sie neue Malstile wie den aufkeimenden
Impressionismus zum Ende des 19. Jahrhunderts
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Henri Matisse
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Sir Lawrence Alma-Tadema
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behinderten. Renoir, Degas, Monet und andere Impressionisten
durften jedoch sehr wohl in den Ateliers der damals etablierten Künstler
arbeiten und impressionistische Werke wurden regelmäßig im letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts in den Kunstaustellungen gezeigt.
Wahr ist, daß Bouguereau dagegen war, daß impressionistische Werke
in den Salons gezeigt werden, da er impressionistische Gemälde als unfertige
Skizzen ansah. Doch macht diese private - und gewiß ungerechtfertigte
- Meinung sein eigenes Werk schlecht oder ungültig?
Henri Matisse, der als Hauptfigur des Fauvismus gilt und als einer der größten
Maler des 20. Jahrhunderts angesehen wird, war hingegen z.B. ein Schüler
von William Bouguereau. Matisse war jedoch nicht lange im Atelier von Bouguereau,
der den jungen Studenten gerne unterrichten wollte. Schon nach kurzer Zeit
verließ Matisse Bouguereaus Atelier wieder. Bouguereau selbst soll nur
angemerkt haben: "Sie müssen dringend Perspektive lernen. Aber zuerst
sollten Sie lernen, wie man einen Pinsel hält, ansonsten werden Sie nie
wissen, wie man malt." Nun, Matisse hat seinen Platz in der modernen Kunstgeschichte.
Wenn man sich Henri Matisses "Frau im Kleid" weiter oben anschaut
und dann ein sehr ähnliches Motiv von Sir Lawrence Alma-Tadema stellt
sich die Frage, was Matisses Bild zu Kunst macht und was Alma-Tademas
Werk Kitsch bzw. schlechte Kunst werden läßt.
Am Motiv des Bildes - das ist eigentlich identisch - kann es nicht liegen.
Am Stil vielleicht? Ist Matisses Stil revolutionär, neu, großartig?
Oder vielleicht nur der Beweis, daß Bouguereau recht hatte? Warum
aber ist Matisse heute ein bekannter und geachteter Künstler und
sein Lehrer nicht? Zu Malen wie Bouguereau hieß, daß man für
ein Bild mehrere Wochen, manchmal auch Monate benötigte. Bouguereau
hat als Lebenswerk nur etwas mehr als 800 Gemälde hinterlassen. Pablo
Picasso als Gegensatz dazu hat bis zu seinem Lebensende mehrere zehntausend
Kunstwerke geschaffen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach dem 1. Weltkrieg, als die alte Weltordnung
überholt war, begann die intellektuelle Elite die Malerei des späten
19. Jahrhunderts in den selben Topf wie andere veraltete Vorstellungen
zu werfen. Doch auch die Galeristen witterten Neuland. Es hatte früher
immer lange Wartelisten für das Bild eines klassischen Malers gegeben,
was natürlich auf die Maltechnik zurückzuführen ist. Mit
dem Aufkommen der Modernen Kunst jedoch war es plötzlich so, daß
Leute wie Picasso Bilder in wenigen Stunden oder Tagen fertigstellen konnten.
Anders ausgedrückt: wer Moderne Kunst verkaufte, konnte in relativ
kurzer Zeit sehr viel mehr Geld einnehmen als mit dem Verkauf eines Bildes
von Bouguereau oder eines seiner Zeitgenossen.
Bouguereau wurde in der Folgezeit aus der Geschichte gestrichen, seine bis dato sehr beliebten Bilder verloren den Platz in den Museen und Galerien, es mußte Platz für die Moderne Kunst geschaffen werden. Wie aber konnte die Moderne Kunst die klassische Malerei derart verdrängen?
Galeristen besorgten sich Kritiker, Historiker und andere Experten, die
die Qualität und Güte der Modernen Kunst und ihre Überlegenheit
belegen sollten. Schließlich mußte die Klientel davon überzeugt
werden, daß das, was man da kauft, auch wirklich schön und
gut oder zumindest sehr intellektuell ist. In dieser Zeit liegt der Grundstock
für die immer noch geltende Auffassung, was gute Kunst ist und was
schlechte Kunst ist. Moderne Maler mußten Kunst sein, um damit sehr
viel Geld verdienen zu können. Akademische Maler waren hier einfach
nicht profitträchtig genug. Um es deutlich zu machen: es soll jetzt
nicht die Moderne Kunst als solches angegriffen werden. Impressionismus,
Kubismus, Expressionismus und andere Malrichtungen sind auf jeden Fall
eine wertvolle Erweiterung der klassischen, akademischen Malkunst. Genauso
soll hier nicht behauptet werden, daß es keine schlechten und kitschigen
Gemälde im 19. Jahrhundert gegeben hat. Doch die Art und Weise wie
die Verfechter der Modernen Kunst die akademische Malerei generell diskreditieren
ist fragwürdig.
Mir fällt auf, daß ein großer Teil der Moderne Kunst
eine intellektuelle Begründung benötigt. Moderne Kunst ist sehr
elitär. Die Verfechter und Advokaten der Modernen Kunst lassen keinen
Zeifel offen, daß jemand, der die Schönheit und Bedeutung eines
Kunstwerkes von Willem De Kooning, Mark Rothko, Barnett Newman oder Jackson
Pollock nicht sieht, nicht intelligent oder einsichtig genug ist - oder
zu naiv. Da viele ihr Unverständnis der Modernen Kunst nicht zugestehen
wollen sagen die meisten gar nichts. Oder aber man wendet sich generell
von der Kunst ab, was sehr schade ist.
Hier ein Auszug aus einem Text vom Guggenheim Museum, zu Mark Rothkos Werk "Ohne Titel":
"Um die Macht seiner Leinwände zu erklären
ziehen manche Kunsthistoriker die kompositorische Nähe zur romantischen
Landschaftsmalerei und christlichem Altarschmuck heran. [...] Für
Chave umfassen solch gereifte Gemälde wie "Ohne Titel (Violett, Schwarz,
Orange, Gelb auf Weiß und Rot) metaphorisch den Zyklus des Lebens,
von der Wiege bis ins Grab. Die aufeinandergestapelten Rechtecke können
vertikal betrachtet als eine abstrakte Jungfrau interpretiert werden,
die von horizontalen Trennstrichen aufgeteilt wird, die den auf dem Rücken
liegenden Christus andeuten. Auch ohne Chaves Argumenten ist es klar,
daß Rothko hoffte, die Größe religiöser Gemälde
einzufangen."
Es
folgt ein Text der stuttgarter Staatsgalerie, in dem Barnett Newmans Werk
"Who's afraid of red, yellow and blue?" ausgestellt ist:
"Das Bild aus einer Serie von vier Gemälden gleichen Titels gilt als ein Hauptwerk des Abstrakten Expressionismus. Es thematisiert die drei Primärfarben und schließt damit unmittelbar an die klassische geometrische Abstraktion Mondrians an.
Anders als dort erhält jedoch die Farbe eine semantische Qualität. Newman verleiht dem Rot, der Farbe des Erhabenen, das Maß des Hohen und Sakralen. Gelb und Blau steigern seine Leuchtkraft derart, dass es sich jenseits der Bildgrenzen ausdehnt. Dadurch ohne räumliche Distanz, bringt das Bild das Erhabene augenblicklich zu überwältigender Evidenz."

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Wer den Ausführungen weiter oben nicht folgen kann gerät
schnell in Gefahr, von der heute herrschenden Kunstelite mit
dem Gefühl zurückgelassen zu werden, nichts verstehen
zu können. Wer kennt nicht den Ausspruch: "Das könnte
mein 5-jähriges Kind ebenso malen!". Man denkt es sich
zwar, aber wer es laut ausspricht zieht sich den Zorn all
jener zu, die von Moderner Kunst leben. Ich denke, es steht
außer Frage, daß beinahe jeder von uns mit drei
Farben
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Willem De Kooning - Two Women
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William Bouguereau - Les Deux Baigneuses
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und einem Lineal ausgestattet, Barnett Newmans
Bild kopieren oder variieren könnte. Das so enstandene Bild wäre
aber natürlich keine Kunst. In der modernen Kunst ist es wichtig,
wer etwas tut. Es ist sozusagen Kunst über Künstler. Währenddessen
es bei vielen Gemälden in klassischer Maltechnik für den Betrachter
letzten Endes egal ist, wer es gemalt hat - solange es Ausdruck, Schönheit
und Gefühl transportiert. Doch die Moderne Kunst verhält sich
hier wie so vieles in der heutigen Gesellschaft: der Name zählt,
nicht der Inhalt. Kann das aber wirklich Sinn der Sache sein?
In der Modernen Kunst gilt es als schick, keinerlei Anzeichen von Maltechnik
zu zeigen. Hat ein Maler eine klassische Ausbildung wird damit zwar sehr
gerne kokettiert, aber im gleichen Atemzug darauf hingewiesen, daß
er es nicht nötig hatte, dies in seine Werke einfließen zu
lassen. In der selben Tonart gilt malerische Schönheit meist nur
als leerer und sentimentaler Kitsch. Warum gilt es als so verpönt,
klassische Techniken zu verwenden? Kann es sein, daß es einfach
zu zeitaufwendig ist, diese Form der Malerei zu erlernen und vor allem
anzuwenden? Warum Wochen und Monate an einem Bild mühsam arbeiten
wenn ich genauso viel oder noch viel mehr Geld mit einem Gemälde
erzielen kann, daß ich in wenigen Stunden auf die Leinwand getröpfelt
habe? Es zählt dann eigentlich nur die kluge Begründung für
das Gemälde. Und vielleicht ist das dann auch die große Kunst
- sich einen intellektuellen Hintergrund für das Gemälde auszudenken...
Ich denke, daß es Zeit ist, dem Kaiser zu sagen, daß er nichts
anhat. Ist man rückständig oder einfach nur dumm, wenn man beim
Anblick moderner Kunst als Normalbürger nicht immer das sehen kann,
was die Experten sehen? Es gibt gute Moderne Kunst, es gibt aber auch
gute sog. "akademische" Kunst. Mit der akademischen Kunst ist eine jahrhundertealte
Tradition eines Meisters, seinem Atelier und einer jahrelangen Ausbildung
seiner Schüler verbunden. Mit der Modernen Kunst leider meist vor
allem viele kluge Worte von Experten - und natürlich viel Geld und
Profit.
Eines zum Schluß: Rembrandt, der allgemein anerkannt ist, geriet
nach seinem Tod beinahe in Vergessenheit und Ungnade. Nach seinem Tod
wollte zuerst niemand sein Gemälde "Die Nachtwache" aufhängen,
bis sich eine Turnhalle dazu herabließ, es an eine Wand zu hängen.
Da die Wand aber nicht groß genug war, schnitt man einfach knapp
1/3 des Gemäldes ab, damit es paßt. Wenn man heute Rembrandts
Nachtwache sieht, dann nur in verstümmelter Form. William Bouguereaus
Werke haben in den letzten 20 Jahren eine gewisse Renaissance erfahren.
Noch in den 60er Jahren konnte man Bilder von ihm für 500 - 1.500
Dollar auf Auktionen erwerben (nicht zu vergleichen mit den zig-Millionen,
die Picassos Werke einbringen), vor kurzem waren es schon 3.5 Millionen
Dollar für ein Bild von ihm. Es bleibt zu sehen, was eine ferne Zukunft
über die Kunst des 20. Jahrhunderts und des späten 19. Jahrhunderts
sagen wird.
Es gibt sie noch, die Maler, die nach klassischer
Tradition malen. Ateliers, in denen 500 Jahre abendländisches Wissen
um die Malerei am Leben gehalten wird. Noch haben es Maler, die sich der
klassischen Tradition widmen, schwer. Doch das Wiederaufleben solcher
Meister wie William Bouguereau macht Hoffnung, daß diese Form der
Malerei nicht irgendwann in der Geschichte untergeht.
Ich denke nur, daß jeder den Mut haben sollte, zu seinen eigenen
Gefühlen beim Betrachten von Kunst zu stehen und sich von Erklärungsversuchen
der Experten nicht im eigenen Empfinden verunsichern zu lassen. Moderne
Kunst spielt sich häufig nur im Kopf oder im begleitenden Erklärungstext
eines Kunstkritikers ab ohne den man ansonsten nichts im Gemälde
erkennen würde. Seele, Gefühl und Schönheit bleiben dabei
meines Erachtens nach oft auf der Strecke. Vielleicht auch ein Zeichen
des zurückliegenden 20. Jahrhunderts. Doch das war einmal.

Kasimir Malewitsch
- Schwarzes Quadrat
auf weißem Grund
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Jeden Tag gehe ich voll Freude in mein Atelier; am Abend, wenn
mich die Dunkelheit dazu zwingt aufzuhören, kann ich kaum
den nächsten Morgen erwarten... Meine Arbeit ist nicht nur
ein Vergnügen, sie ist eine Notwendigkeit geworden. Egal wie
viele andere Dinge ich im Leben habe, wenn ich mich nicht meiner
geliebten Malerei hingeben kann fühle ich mich miserabel.
- William Bouguereau
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William Bouguereau - Le crepuscule
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