"Können Kritiker töten?

Diese Frage stellte vor einigen Jahren ein Journalist namens Michael Billington, Kritiker und Rezensent beim GUARDIAN, einer der angesehensten Zeitung unserer westlichen Welt.
Man kann ungefähr erahnen, was Billington mit diesen Worten sagen wollte; es lohnt sich dennoch einen genaueren Blick darauf zu werfen.
In den öffentlichen Medien wie in der Politik ist in den letzten Jahren die Atmosphäre zunehmend giftiger geworden, die Sprache verletzender. Die Pfeile, die früher über der Gürtellinie den Gegner trafen, zielen nun oft auf tiefere und empfindlichere Regionen. Leider färbt dieses ungesunde Kommunikationsklima auch auf andere Aspekte unseres öffentlichen Lebens ab, sogar auch auf den Bereich der Rezensionen.
Denn Kritik kann verletzend, grob, der Sache ungemäß sein und der Kritiker kann es dem Elefanten im Porzellanladen gleich tun, mehr auf das Hervorstellen seines eigenen Ego als auf das Vorstellen des ihm vorliegenden Werkes bedacht. Nicht nur in den ‚Großen' Medien sondern auch im speziellen Bereich des SF-Fandoms.
Umgekehrt gibt es auch jene Spezies von überempfindlichen Künstlern, die nur Lob für ihre Werke empfangen wollen und bei der geringsten Kritik an ihren "Meisterwerken" in ein tiefes Jammertal fallen und sich zutiefst ungerecht behandelt fühlen.

Vielleicht sollten beide Seiten einmal über die Menschen auf der anderen Seite nachdenken:
Bedenkt jeder Kritiker und jeder Künstler, wie unterschiedlich die Arbeitsprozesse des anderen gelagert sind? Jeder Kritiker sollte bedenken, dass es für einen Künstler genauso lange dauert sich einen Flop einfallen zu lassen wie ein Meisterwerk, bisweilen sogar noch länger.
Beginnt ein Künstler ein neues Werk, so ist das wie eine Geburt zu erleben, mit allen Risiken und auch einigen der Wehen. Eine Flut von Gedanken und Überlegungen sind plötzlich da, entwickeln sich, expandieren ins Uferlose, manche verflüchtigen sich wieder, manche bleiben, manche muss man suchen, was unendliche Geduld erfordert - und alles will am Ende zurecht gerückt sein im Ergebnis des kreativen Schaffens. Die dabei vergehende Zeit - so man sich nicht an einen Termin hat binden lassen - ist nur ein untergeordneter Faktor.
Und die Einsamkeit des Autors, des Malers... im kreativen Prozess ist oft ebenso erdrückend wie erhebend. Anders beim Kritiker:
Seine Rezensionen unterstehen meistens einem gewissen Zeitdruck; bis zum Erscheinen von Ausgabe #... der SOL... hat er noch soundso viele (besser: wenige) Tage zur Verfügung...
Ist eine Kritik da nicht etwas furchtbar Willkürliches, unsagbar abhängig von der "Tagesform" ihres Verfassers? Macht einmal den Selbsttest, setzt Euch über ein und dasselbe Werk an zwei verschiedenen Tagen hin und schreibt eine Rezension. An dem einen sei man halbwegs gut gelaunt, man habe Zeit und Muße... an dem anderen Tag sei man gestresst, Termine drücken von hinten und man habe gerade eine Stunde Zeit um die Rezi zu Papier zu bringen.
Die Erfahrung lehrt:
Man wird nicht zu einem identischen Ergebnis kommen...
Bei den "Missetätern", den Rezensenten, geraten deshalb die meisten ihrer "Werke" schnell in Vergessenheit; das Erinnerungsvermögen ihrer Opfer dagegen ist weitaus länger. Außerdem haben sie viel mehr Zeit, die von einem beiläufig dahin geworfenen Verriss geschlagenen Wunden zu lecken.

Kann man nun ein Fazit daraus ziehen?
Künstler sind fehlbar, Kritiker sind es auch.
Es wäre hilfreich, wenn sich beide Spezies bewusst würden, dass sie, obwohl zeitweilig Gegner, im Prinzip auf derselben Seite kämpfen, der Seite der Kunst, die unsere Welt so wunderbar bereichert.
Damit ein Künstler seine Fähigkeiten entwickelt bedarf es einer außergewöhnlichen Empfindsamkeit. Wenn mancher Kritiker sagt, der Künstler müsse sich ein dickeres Fell zulegen, so ist das unrealistisch und gegen die Natur des Künstlers. Der Künstler MUSS dünnhäutig und empfindsam sein um sich berühren zu lassen.

Können Kritiker also töten?
Sir Peter Ustinov hat es so formuliert:

Nicht wirklich.
Nicht absichtlich.
Aber, und das ist fast schlimmer,
sie können die Begeisterung, den Elan und die Gelassenheit töten.

Jeder Kritiker möge das bedenken, bevor er sich an die nächste Rezension setzt.

Gott sei Dank gibt es noch das Publikum, das sich seine eigene Meinung bildet.

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